Zeit des Aufbruchs
in der Nacht, nachdem Kevin auf eine Matratze neben Ayaki gebettet worden war, befahl Mara, die Lampen zu löschen. Sie gewährte Keyoke, Jican und Lujan ihre wohlverdiente Ruhe, und da an jedem Hauseingang Krieger standen, widmete sie sich still den beiden geliebten Menschen. Sie erkannte und begriff jetzt nur zu gut, wie nah an den Untergang sie alle mit ihrer Selbstsüchtigkeit gebracht hatte. Ihr Aufstieg zur Clanlady schien jetzt arrogant und wie die Tat einer Närrin.
Sie entkleidete sich nicht, um zu schlafen, obwohl der Heiler, der immer wieder nach seinen Schützlingen schaute, sie mehrmals bat, ein Schlafmittel zu nehmen. Ihre Augen brannten von den Tränen, und sie wollte das Vergessen nicht, das der Schlaf bringen würde. Schuld lastete auf ihrem Herzen, und zu viele Gedanken kreisten in ihrem Kopf. Bei Morgenanbruch nahm sie allen Mut zusammen, stand mit steifen Knochen von den Kissen auf und verließ den Raum, in dem die beiden geliebten Menschen zurückblieben. Allein, nur von den wachhabenden Soldaten beobachtet, schritt sie wie eine Heimatlose durch die dunklen Korridore zum Kinderzimmer, wo die Leiche der Frau, die sie aufgezogen hatte, auf einer Ehrenbahre lag.
Nacoyas blutiges Gewand war gegen kostbare Seide im Grün der Acoma ausgetauscht worden. Ihre faltigen alten Hände lagen friedlich an der Seite, in weiche Lederhandschuhe gehüllt, um die grausamen Einschnitte vom Seil des Attentäters zu verbergen. Das Messer, mit dem sie getötet worden war, ruhte auf ihrer Brust – ein Zeichen der Ehre, das Turakamu gegenüber erklärte, daß sie wie ein Krieger gestorben war. Ihr Gesicht war von silbrigweißen Haaren umrahmt und schien jetzt weit friedlicher als jemals zuvor. Sorgen und Arthritis und Haarnadeln, die niemals an Ort und Stelle blieben, konnten sie jetzt nicht mehr stören. Ihr jahrzehntelanger, treuer Dienst war vorüber.
Mara spürte neue Tränen hinter den Augenlidern aufsteigen. »Mutter meines Herzens«, murmelte sie. Sie sank auf dem Kissen neben der toten Frau auf die Knie und ergriff eine kalte Hand. Mühsam rang sie um eine feste Stimme. »Nacoya, du sollst wissen, daß dein Namen zusammen mit denen der Ahnen der Acoma geehrt wird und deine Asche innerhalb der Mauern des Heiligen Hains verstreut werden wird, im Garten des Natami. Du sollst wissen, daß das Blut, das heute vergossen wurde, Acoma-Blut war und daß du zur Familie und zur Verwandtschaft zählst.« Hier hielt Mara inne, als ihr der Atem stockte. Sie hob ihr Gesicht in das graue Licht, das durch die Läden fiel, und schaute in den Nebel hinaus, der das Land ihrer Vorfahren bedeckte.
»Mutter meines Herzens«, fuhr sie unsicher fort, »ich habe nicht auf dich gehört. Ich war selbstherrlich und arrogant und unvorsichtig, und die Götter nahmen dir meiner Dummheit wegen das Leben. Doch höre mich an: Ich kann immer noch lernen. Deine Weisheit lebt in meinem Herzen weiter, und morgen, wenn deine Asche den Göttern übergeben wird, werde ich dieses Versprechen abgeben: Ich werde den Barbar Kevin fortschicken und ein Verlobungsangebot an die Shinzawai schicken, in dem ich um die Heirat mit Hokanu bitte. Dieses werde ich tun, noch bevor diese Jahreszeit zu Ende geht, alte weise Frau. Und bis ans Ende meiner Tage wird mein größter Kummer sein, daß ich nicht auf dich gehört habe, als du noch an meiner Seite warst.«
Sanft legte Mara die faltige Hand zurück auf die Bahre. »Viel zu selten habe ich es dir gesagt, Nacoya: Ich habe dich sehr geliebt, Mutter meines Herzens.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Und ich danke dir für das Leben meines Sohnes.«
Zehn
Durchbruch
Die Trommeln verstummten.
Stille senkte sich über den Besitz der Acoma, zum ersten Mal seit drei Tagen, da die Beerdigungsrituale begonnen hatten. Die Priester Turakamus, die zu dieser Gelegenheit erschienen waren, packten ihre Masken aus Lehm wieder ein und schritten nacheinander davon. Nur die rote Fahne an der Vordertür blieb als sichtbare Erinnerung an die kürzlich Verstorbenen hängen. Doch für Mara bot das Herrenhaus einen Grund mehr, weshalb es ihr nicht mehr die Sicherheit bieten konnte, an die sie sich aus ihrer Kindheit erinnerte.
Nicht nur sie war voller Unruhe. Ayaki weinte sich nachts in den Schlaf. Neben ihm lag Kevin, eine fremde, geisterhafte Gestalt in weißen Verbänden; er versuchte den Jungen mit Geschichten zu erheitern oder rief Diener mit Laternen, wenn der Junge in der Dunkelheit zitterte, beruhigte ihn, wenn
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