Zeit des Aufbruchs
hatte.
Wenn er wirklich die Seiten gewechselt hatte, war sie in noch viel größerer Gefahr. Er hatte über die Jahre hinweg Zugang zu den tiefsten Geheimnissen ihres Haushalts gewonnen; es gab keinen einzigen Aspekt ihrer Angelegenheiten, von dem er nicht wußte. Und er verabscheute die Minwanabi genauso wie sie.
Wirklich genauso?
Mara schwitzte vor Qual. Wenn sein Wunsch nach Rache nur Theater gewesen war, gab es dann eine bessere Intrige, ihr Vertrauen zu gewinnen, als denselben Feind zu verunglimpfen, der auch ihren Vater und ihren Bruder getötet hatte?
Arakasi, der so begnadet war, in immer neue Rollen und Verkleidungen zu schlüpfen; er war ein unübertrefflicher Schauspieler, dem es ein leichtes sein mußte, leidenschaftlichen Haß vorzutäuschen.
Mara schloß die Augen und rief sich die Unerredungen in Erinnerung, die sie all die Jahre mit Arakasi geführt hatte. Der Mann konnte sie einfach nicht betrogen haben. Oder doch? Sie seufzte, gab sich in der Stille ihrer privaten Gemächer dieser einfachen Lösung hin. Sie war tief in ihrem Innern fest davon überzeugt, daß Arakasi kein Spion der Minwanabi sein konnte; der Haß auf Tasaio und seine Familie war zu echt. Aber konnte jemand anders den Supai umgedreht haben? Konnte jemand Arakasi eine bessere Position geboten haben, um seinen Krieg gegen die Minwanabi weiterzuführen? Um den Preis des Verrates an den Acoma?
Maras Finger packten fester zu, bis sie die weißen Markierungen auf der Haut sah. Wenn der Supai die Relli in ihrem Nest war, dann war alles, was sie bisher getan hatte, umsonst. In diesem Augenblick wäre ihr Nacoyas Nörgelei höchst willkommen gewesen, ein Zeichen, daß Fehler berichtigt werden konnten.
Doch die alte Frau war längst zu Asche geworden, Staub unter dem Staub Tausender Ahnen der Acoma, deren Ehre Mara aufrechterhalten mußte.
Wieder quälte sie sich mit der Frage: Wie hatte sie ein solch enges, inniges Verhältnis zu einem Mann aufbauen können, der ihr Schaden zufügen wollte? Wie war das möglich?
Die Nacht hielt keine Antworten bereit.
Mara ließ die müden Hände in den Schoß sinken und betrachtete das Tintenfaß. Obwohl die Lampen um sie herum hell brannten und ihre besten Wachen wachsam an der Tür standen, fühlte sie sich in die Enge getrieben. Mit einer zittrigen Hand griff sie nach der Feder und dem Pergament. Sie kratzte die angetrocknete Tinte von der Federspitze ab, tauchte sie in das bereitstehende Fäßchen und schrieb in formellem Stil oben in die Mitte des Blattes den Namen von Kamatsu von den Shinzawai.
Eine lange Pause verstrich, bevor es ihr gelang, sich zum Weiterschreiben zu zwingen. Sie konnte ihren Schmerz auch nicht lindern, indem sie von einem Diener ihren Schreiber holen ließ. Ihr Versprechen Nacoya gegenüber war ein Geheimnis. Und so vollendete sie die rituellen Sätze des Heiratsangebotes und bat Kamatsus ehrenvollen Sohn Hokanu von den Shinzawai, ihre frühere Ablehnung zu überdenken und ihre Hand als Gatte der Lady der Acoma anzunehmen.
Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie bei der letzten Zeile angekommen war, ihre Unterschrift und das Familiensiegel hinzufügte. Rasch faltete und versiegelte sie das Dokument, klatschte nach einem Diener in die Hände und gab mit gepreßter Stimme ihre Anordnungen.
»Sorge dafür, daß dieses Papier sofort zu den Heiratsmaklern in Sulan-Qu gebracht wird. Sie sollen es so schnell wie möglich an Kamatsu von den Shinzawai weiterleiten.«
Der Diener nahm die Schriftrolle entgegen und verneigte sich vor seiner Herrin. »Lady Mara, Euer Wunsch wird gleich bei Tagesanbruch ausgeführt werden.«
Mara zog die Brauen zusammen, und eine tiefe Falte trat auf ihre Stirn. »Ich sagte, sofort! Finde einen Boten und schick das Dokument sofort nach Sulan-Qu!«
Der Diener warf sich ehrerbietig auf den Boden. »Wie Ihr wünscht, Mylady«
Sie winkte ihn ungeduldig weg. Wenn sie seinen raschen, verwirrten Blick in die Dunkelheit jenseits des Ladens gesehen hatte, nahm sie ihn nicht zum Anlaß, den Diener aus Rücksicht auf die unvernünftige Stunde zurückzurufen. Sie wußte nur zu gut, daß sie, wenn sie das Angebot an Kamatsu noch bis zum Morgen hinausschob, nicht in der Lage sein würde, es überhaupt abzuschicken. Es war besser, den Boten ein paar Stunden in der Dunkelheit stehen und warten zu lassen, bis der Makler aufgestanden war, als zu riskieren, daß sie ihre Meinung änderte und den Schwur brach.
Die Kammer wirkte plötzlich erdrückend, der Duft
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