Zeit des Aufbruchs
keine Gestalt annehmen würde. Er bedeutete seinem Kommandeur, die Soldaten kehrtmachen und zum Lager zurückkehren zu lassen.
Allein mit dem klagenden Gesang des Butana blieb Incomo zurück. Er konnte sich nicht vorstellen, wie Mara die bevorstehenden Ereignisse in eine andere Bahn lenken wollte. Doch er wußte, daß dieser Konflikt noch lange nicht beendet war. Im besten Fall hatte Mara sich das Geschenk ein paar weiterer Monate zum Ränkeschmieden erstanden; im schlimmsten hatte sie eine Falle im Kopf, von der die Minwanabi verschluckt werden würden. Ein schwerer Windstoß ließ ihn frösteln; er zog die flatternden Gewänder enger um sich und beeilte sich, seinen Herrn einzuholen. Als er den Weg in der Dunkelheit hinunterschritt, grübelte er darüber, was der umsichtigste Weg wäre: seine Agenten anzuhalten, daß sie neueste Informationen über Maras Ziele mitteilten, sofern sie sie enthüllen konnten – oder seinen Letzten Willen zu beenden und das Todesgedicht zu schreiben. Mit einem tiefen Gefühl von Endgültigkeit entschied Incomo, beides zu tun.
Die Nacht war nach den Ereignissen auf dem Hügel aber keineswegs zu Ende. Mara kehrte in ihr Haus zurück und fühlte sich bis auf die Knochen erschöpft. Sie legte das oberste Gewand ab und strich die schwarzen Locken zurück, die der unablässige Wind aus den Haarnadeln gerissen hatte. Erst jetzt wich die Benommenheit von ihr, und sie verstand, was Saric gerade gesagt hatte.
Ein kaiserlicher Bote hatte während ihrer Abwesenheit nach ihr verlangt.
»Was wollte er?« fragte Mara benommen, und an dem besorgten Blick Sarics erkannte sie, daß sie ihn gebeten hatte, sich zu wiederholen.
Taktvoll erklärte es Saric, und die Einzelheiten von Ichindars jüngster Erklärung trafen Mara wie ein Hieb mitten ins Herz.
Ihre Gedanken waren wie betäubt nach den ersten Worten: Der Kaiser von Tsuranuanni kaufte alle Sklaven auf, die Angehörigen des Kaiserreiches gehörten. Die Worte »gerechter Preis« und »Kaiserliche Schatzkammer« schienen nur aus kalter Luft zu bestehen, eine teuflische Ausdehnung der Alpträume des Butana. Mara schwankte, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen, und sie merkte nicht, wie Saric ihr vom Flur ins Eßzimmer half. Das Kissen unter ihr wirkte nicht real, und die ihr in die Augen tretenden Tränen schienen die einer anderen Person zu sein.
Ihr Körper, ihr Verstand, ihr Herz – alles war eine einzige, qualvolle Wunde.
»Warum?« fragte sie wie betäubt. »Warum?«
Saric ließ ihre Hand nicht los, hauptsächlich, weil sie sich noch an die Wärme seiner Berührung klammerte. Er gab ihr an Trost, was er konnte, obwohl er die Vergeblichkeit seiner Bemühungen ahnte. So sanft und leise wie möglich versuchte er das Unerträgliche etwas zu mildern. »Es heißt, daß das Licht des Himmels Kevins Landsleute zurück zum midkemischen König schicken will. Der ursprüngliche Spalt bei der Stadt der Ebene ist wieder offen. Alle Sklaven, die einst Kriegsgefangene waren, werden flußabwärts gebracht und durch den Spalt zurückgeschickt.«
Bei der Erwähnung ihres Geliebten fuhr Mara regelrecht zusammen, und sie konnte nicht verhindern, daß Tränen aus ihren Augen strömten. »Der Kaiser macht freie Männer aus den Sklaven?«
Ruhig erklärte es Saric: »Aus Respekt vor unseren Göttern könnte man sagen, daß diese Tat das Vorrecht von Lyam, dem König der Inseln, ist.«
Mara betrachtete die weißen Finger, die sich mit denen ihres Beraters verschränkten. Ihr Entschluß, Nerven aus Stahl zu zeigen, hatte nichts gebracht! Sie fühlte sich bis ins Innerste besiegt. Die Bedrohung durch die Minwanabi hatte ihre letzten Kräfte aufgebraucht, und jetzt sollte sie auch noch Kevin verlieren. Die Tatsache, daß sie bereits entschieden hatte, ihn in die Freiheit zu entlassen, machte keinen Unterschied. Die Plötzlichkeit, mit der alles geschah, war das Vernichtende.
»Wann sollen die Sklaven dem Licht des Himmels übergeben werden?« fragte sie, überrascht, daß ihre Zunge überhaupt Wörter formen konnte.
Saric antwortete mit ehrlicher Anteilnahme. »Morgen mittag, Mylady«
Es hatte keine Warnung gegeben, nicht eine einzige. Mara schluckte einen Schluchzer hinunter. Sie schämte sich für die Gefühle, und während sie Nacoyas Stimme hörte, die sie wegen unwürdiger Emotionen schalt, hielt sie sich an dem einzigen Gedanken fest, der ihr Mut verschaffen konnte; denn Kühnheit allein würde sie durch die Ruinen ihres einzigen
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