Zeit des Lavendels (German Edition)
Thomas in das Dunkel des Murgtalwaldes eintauchte. Ein mehrstündiger Marsch durch eine verwunschene Welt lag vor ihnen, eine Welt der Kobolde und der Feen, der Erdwesen und der Steinmänner, die sie hier betraten. Die tief hängenden Äste der Bäume ließen nur selten einen Sonnenstrahl auf den Boden durchdringen. Farne hatten sich an Felsen festgeklammert, Moospolster umrahmten die Steingesichter der kantigen Felswände an der rechten Seite des Pfades. An der Linken rauschte die Murg ins Tal. Mal schäumend und strudelnd vorbei an größeren Felsbrocken, die ihren Lauf bremsten. Manchmal wurde der Bach ruhiger, langsamer. In diesen Abschnitten gab das klare Wasser den Blick auf Kiesel und Algen frei. Sumpfdotterblumen, Farne und scharfe Gräser säumten das Ufer. Dann wieder kamen sie an abgebrochenen, ausgewaschenen Erdwunden vorbei, aus denen verloren die Wurzeln gefallener Baumriesen ragten.
Thomas und Anna liebten diese geheimnisvolle Welt im Halbdunkel sofort. Welch prächtiger Ort zu spielen, Steinburgen zu bauen, Dämme zu errichten, Stöcke zu schnitzen, durchs Wasser zu stieben, nach Fischen zu greifen oder Geschichten von verwunschenen Wesen zu erfinden. Doch Katharina wollte weiter. Sie hatten nicht viel Zeit. Am Abend mussten sie zurück in der Bannwarthütte sein. Dann wartete der schwerste Teil dieser Reise in die Vergangenheit auf sie. Dann musste sie die Habseligkeiten von Konz zusammensammeln.
Es ging steil bergauf. Nach einer guten Stunde musste Katharina die kleine Anna auf ihre Schultern setzen. Immer wieder war das Kind mit seinen kurzen Beinchen über Wurzeln gestolpert, die aus dem schmalen Pfad ragten. Doch sie hatte Sie unbedingt mitnehmen wollen. Schließlich war auch die Kleine ein Kind aus dem Geschlecht der Wieladinger. Und eine aus den Reihen der Rebellen um den Gehenkten Konz Jehle von der Niedermühle, ihrem Großvater. Selbst wenn sie ihr das erst in einigen Jahren würde erklären können.
Auch Thomas wusste nicht, warum die Mutter mit ihnen durch das dunkle, wilde Flusstal streifte. Aber er fragte nicht. Diese Welt war ihm Aufregung genug.
Schon lange war kein Pferd der Ritter von Wieladingen mehr von der hohen Burg auf dem Felsen ins Tal hinuntergetrabt. Doch manchmal, wenn die Murg besonders laut rauschte, meinte Katharina, das Klappern der Hufe noch zu hören. Sie konnte den Tross förmlich sehen: vornweg der Ritter in seiner Rüstung, dahinter die Knappen und Gefolgsleute mit flatternden Bannern, auf dem Weg zu einem Beutezug oder um die Aufgaben des niederen Meieramtes des Stiftes Seggingen zu erfüllen und Gericht zu halten. Hier hatten die heimlichen Treffs der Bundschuhrebellen stattgefunden. Hier hatten sie sich vor den Häschern des Statthalters Ferdinand von Habsburg zwischen den Felsen versteckt, waren verschmolzen mit der Dunkelheit der Bäume. Hin und wieder drang der dröhnende Ruf von Hämmern der Murgtal-Schmiede in das Haus des Waldes, der seine eigenen Geräusche hatte: Das Wasser, der Wind in den Bäumen, die Lieder der Vögel begleiteten das Geräusch ihrer Schritte und das Keuchen des eigenen Atems.
Sie erreichten die Lochmühle und marschierten schließlich weiter über die morsche Brücke den steilen Felsen hinauf, der die Burg einst vor Feinden geschützt hatte. Der Weg war gefährlich. Bröckelnde, glitschige Steine machten den drei Wanderern den Aufstieg schwer. Aber endlich standen sie auf der Burgmatte, und Katharina packte das Essen aus. Etwas Brot, Schabzieger, der würzige Steinklee-Käse aus dem Glarus, und einige schrumpelige Äpfel vom vergangenen Jahr lagen schließlich auf dem Tuch, das sie auf der Wiese ausgebreitet hatte. Thomas war nicht zu halten. Er stürmte dem bröckelnden Burgfried entgegen, der wie ein abgebrochener Backenzahn in den Himmel ragte. Katharina konnte ihn nur mit Mühe zurückhalten. Die zerfallende Burg zu betreten war viel zu gefährlich. Dennoch, sie spürte es genau: Die Herren der Festung waren zwar gegangen, aber ihre Geister waren noch da.
Markerschütterndes Kriegsgebrüll riss sie aus ihren Gedanken. Ritter Thomas machte sich energisch von seiner protestierenden Schwester los. Es dauerte ihm einfach zu lange, bis das Burgfräulein Anna mit ihren winzigen Fingerchen auch das letzte der Farnblätter an der Efeuranke befestigt und damit seine Rüstung komplettiert hatte. Sein König erwartete den Getreuen Freiherrn Thomas von Wieladingen, um endlich in den Krieg gegen die Heiden ziehen zu können. Was sollte
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