Zeit des Lavendels (German Edition)
hell war, mieden sie sie wie die Pest. Nele hatte sich inzwischen daran gewöhnt. Es machte ihr nichts mehr aus.
Doch diese da, diese junge Frau mit dem aufgelösten Haarkranz, war anders. Sie kannten sich länger, als Katharina wusste. Die Kleine hatte ihren eigenen Kopf, ließ sich nicht sagen, was sie zu denken hatte und was nicht. Sie schaute sich die Menschen gut an und beurteilte sie erst dann. Sie war wohl verschlossen, auch sehr misstrauisch. Kein Wunder. Für einen Bankert, ein Bastardmädchen, von dem niemand wusste, woher es kam, war es nirgends leicht. Nur ganz wenige kannten Katharinas Herkunft. Dazu gehörte sie. Aber sie würde schweigen.
»So, jetzt sei ruhig, es wird alles gut.« Nele warf energisch die Türe zu, Dämmerlicht senkte sich über den kleinen Raum. »Nun setz dich erst einmal hin. Heulen kannst du auch, wenn du auf deinem Hintern hockst. Ich mache uns den Tee.« Die alte Frau drehte sich etwas zur Seite und begann mit einem Eisenhaken die Glut unter dem Wasserkessel zu schüren. »Weißt du, Mädchen, ein bisschen bist du für mich wie eines meiner fünf Kinder, Gott hab sie selig.«
Katharina vergaß für einen Moment die eigenen Probleme. Nele hatte eine Menge durchgemacht, das wusste sie. Aber normalerweise sprach die Alte nicht davon. Doch diesmal erzählte Nele weiter, ein beruhigendes Gemurmel, das von schrecklichen Erlebnissen kündete.
»Den Mann und den Sohn haben die Kaiserlichen beim Bauernaufstand geholt. Ja, ja, das waren furchtbare Zeiten. Den Sohn habe ich nie wieder gesehen. Und mein Mann starb in meinen Armen. Sie hatten ihm beide Arme abgehackt. Er hatte schon zu viel Blut verloren. Ich konnte ihm nicht mehr helfen.«
»Nele, ich ...«
Nele murmelte weiter, als hätte sie Katharinas Worte nicht gehört. »Die Älteste und die Jüngste holte die Pest vor einigen Jahren.«
Katharina erinnerte sich gut. Als die alte Nele schließlich gesund wieder aus ihrem Haus aufgetaucht war, hatten die Leute begonnen, über ihre seltsamen Kräfte zu munkeln, die selbst den schwarzen Tod in die Flucht schlagen konnten. Und Nele? Nele hatte das Schicksal über Nacht gekrümmt. Seit damals war sie buckelig, und ihre Haare waren weiß. Doch seit damals versorgte sie die Menschen mit Mittelchen, Tinkturen und weisen Sprüchen. Verse und seltsame Zeichen, geschrieben auf Zettelchen, die in kleinen Beuteln über dem Herzen getragen werden mussten. Denn weise Sprüche, das hatte Nele ihr einmal erklärt, wirkten fast so gut wie Kräuter. Hauptsache, die Zeichen waren möglichst unverständlich und sehr kompliziert zu bekommen. Dann glaubten die Leute auch daran. Nicht nur der Glaube an Gott konnte Berge versetzen. Die Zettelchen der alten Nele manchmal auch. Und wenn gar nichts mehr half, dann fügte sie ihrer Kräutermixtur etwas Bilsenkraut bei. Dann glaubten die Menschen alles; selbst, dass der Teufel sie besucht hätte. Nele hatte schon vor einiger Zeit angefangen, Katharina über ihre Rezepturen aufzuklären. Immer fast beiläufig. Damit war die Vertrautheit zwischen der jungen Frau und der Heilerin von Seggingen noch gewachsen. Auch wenn sie sich selten sahen.
Katharina krampfte sich das Herz voller Mitleid zusammen. Ja, und die letzte Tochter war an der Pest im Mai gestorben. Gemeinsam mit der alten Äbtissin Kunigunde von Hohengeroldseck. Es war nur ein kurzes Aufflackern des schwarzen Todes gewesen. Nur die Äbtissin und Nele und ihre Familie hatte er heimgesucht. Und Nele war die einzige und die letzte Überlebende ihrer Familie gewesen. Der schwarze Tod hatte sie nun schon zum zweiten Mal verschmäht. Auch zu dieser Frau war das Leben nicht gerecht gewesen. Schüchtern trat sie zu Nele und umarmte sie. »Für mich bist du der einzige Mensch, dem ich trauen kann.«
Kichernd machte die alte Frau sich los. »Na, hast wohl begriffen, dass es immer noch Schlimmeres gibt, Mädchen? Nein, keine Bange, ich werde dir nicht mit meinen Tinkturen und Zettelchen kommen. Weißt inzwischen zu gut, was dahinter steckt. Dir kann ich nichts vormachen. Hast einen guten Rat wohl dringender nötig, wie?«
»Woher weißt du, was ich gerade gedacht habe?«
»Ach, Mädchen. Ich kenne die Menschen schon etwas länger als du. Nun setz dich endlich hin. Inzwischen scheinst du dich ja soweit beruhigt zu haben, dass du wieder normal reden kannst.« Nele winkte ihr ungeduldig zu. »Nun setz dich endlich«, sagte sie noch einmal barsch und wies auf einen Haufen alter Decken, die auf dem gestampften
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