Zeit des Lavendels (German Edition)
Hausen hatte nicht extra zu betonen brauchen, dass dies eine heimliche Abreise werden würde. Konz Jehle kam ohnehin mit. Doch eine war da noch, von der sie sich unbedingt verabschieden wollte. Die alte Nele würde niemandem etwas verraten. Dafür lebte sie schon viel zu lange selbst mit der Bürde der bösen Gerüchte.
Zu Katharinas großer Überraschung wusste Nele schon Bescheid. »Ich habe der Äbtissin den Rat gegeben, dich schnellstens wegzuschicken«, klärte die Alte sie auf. »Eine Frau wie ich hört mehr als die Äbtissin des Stiftes. Doch bevor du gehst, will ich dich noch dem Schutz der Seconia anbefehlen.«
Katharina schaute Nele groß an. Heute schien der Abend der Enthüllungen zu sein. »Seconia? Wer ist das?«
»Die Beschützerin der heilenden Quellen, Kleine. Ich weiß, du hast noch nichts von ihr gehört. Nur noch wenige Frauen haben sich ihrem Dienst geweiht. Seit Urgedenken ist sie es, die das heilende, das heilige Wasser erhält und damit den Quell des Lebens, der vor den Toren der Stadt in der Badmatte aus dem Boden sprudelt. Als die Lehre des Christentums kam, wurde die Erinnerung an sie nach und nach ausgemerzt. Doch deshalb hat sie nicht aufgehört zu existieren. Seggingen hat von ihr übrigens seinen Namen.
Lange bevor die Römer kamen und hier im Rheintal ihre Straßen anlegten, hieß auch dieser Ort Seconia. Verborgen im Wald gibt es immer noch die heilige Stätte der Göttin. Selbst die Römer haben nicht gewagt, sie zu zerstören. Der irische Mönch Fridolin muss von ihr erfahren haben, als er hierher kam, um den Menschen das Christentum zu bringen. Denn die Stadt, die er um das Stift gründete, nannte er der Überlieferung nach Seconia. Mit den Jahrhunderten, die seitdem vergangen sind, ist das ebenso in Vergessenheit geraten wie die Beschützerin der Quellen selbst. Es gibt nur noch sehr wenige, die sich an sie erinnern. Und aus dem Ort Seconia wurde mit der Zeit die Stadt Seggingen. Doch die Menschen nutzen die heilenden Quellen, wie sie es schon vor Jahrhunderten taten. Nun komm. Die Beschützerin wartet schon auf dich.«
Katharina nickte. Sie vermochte nicht viel zu sagen. Wie selbstverständlich wandte sie sich nach Norden, da die Badehäuser und die Quellfassung am anderen Ufer des nördlichen Rheinarmes lagen, direkt im Westen der steinernen Brücke.
Doch Nele schüttelte den Kopf. »Nein, das ist die falsche Richtung. Wir müssen von der hölzernen Rheinbrücke aus in Richtung Südosten. Dort ist der Hain der Seconia. Dort kommt die starke Wasserader her, die die Quellen der Badmatte speist. Auch dieses Wissen ist bei den meisten Menschen schon lange verloren gegangen.«
Katharina konnte es kaum glauben. »Aber dann kommt das Wasser der Quelle ja aus dem Fricktal.«
Nele nickte bestätigend. »Ja, und unter dem Bett der beiden Rheinarme hindurch fließt es zur Badmatte, wo es ans Tageslicht tritt.«
»Kaum zu glauben«, murmelte Katharina. »Und ich dachte immer, die Quelle entspringt irgendwo in den Bergen und Wäldern im Norden.«
»Das glauben alle«, bestätigte Nele. »Die Wahrheit wissen nur die Dienerinnen der Seconia.«
Es war inzwischen Nacht geworden. Nele führte Katharina durch einen überwachsenen Trampelpfad in den Wald. Katharina war noch nie nachts im Wald gewesen. Sie fürchtete sich ein wenig. Die Nacht hatte ihre eigenen Geräusche. Und ihre eigenen Formen. Die dunklen Stämme der Tannen wirkten bedrohlich. Nur hin und wieder drang ein Lichtstrahl des Mondes durch ihre Wipfel bis auf den Boden des Waldes. Er machte Steine zu kleinen Waldkobolden und Wurzeln zu gefährlichen Schlangen.
Nele nahm beruhigend Katharinas Hand. »Du musst keine Angst haben. Über diesen Teil des Waldes wacht Seconia«, flüsterte sie. »Die Mächte der Finsternis haben hier keine Gewalt über dich.«
Katharina hoffte inbrünstig, dass Nele Recht hatte. Zur Sicherheit schickte sie aber noch ein stummes Gebet um Beistand zur heiligen Jungfrau Maria.
Der Wald wurde spärlicher, die Bäume gaben einer kleinen Lichtung Raum. Katharina sah mehrere große Steine, die einen Kreis bildeten. In der Mitte dieses Kreises thronte wie ein Altar ein großer, flach behauener Felsbrocken.
»Still jetzt, Kind. Versuche möglichst leise zu sein und gegen keine Wurzel zu stoßen«, raunte Nele ihr zu. »Seconia mag es nicht, wenn ihr Frieden gestört wird. Das sind die Reste ihres Schreins. Er ist schon seit Urzeiten verfallen. Geh zu dem großen Fels in der Mitte, und leg einfach deine
Weitere Kostenlose Bücher