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Zeit des Lavendels (German Edition)

Zeit des Lavendels (German Edition)

Titel: Zeit des Lavendels (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Gabriel
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Tochter, die vertrauensvollen Augen meines Sohnes — all das sah ich glasklar. So, wie die Berge sich nach einem Gewitter oder bei Föhn gegen den Horizont abzeichnen. Manchmal hatte ich sogar das Gefühl, eine einzelne Pore auf meinem Handrücken erkennen zu können. Selbst meine eigenen Beine, meine Brüste, mein Bauch waren für mich Gegenstand ständiger Verwunderung. Alles, was ich schon so oft gesehen hatte, ohne es wirklich wahrzunehmen, war plötzlich ein für mich völlig neues, erstaunliches, unbekanntes Land, das ich zum ersten Mal betrat.
    Die Angst brachte mir das Gefühl des Staunens zurück über das Wunder des Lebens. Über die Eiche, deren Blätter sich vor dem Fenster meines Zimmers im Regen wiegten, über das Geräusch des Windes in den Zweigen oder die kleinen Spritzer, die jeder Regentropfen in das Wasser des Rheins zauberte. Ich sah mein Bett, den kleinen Tisch, den Stuhl, die Truhe, als wäre alles völlig neu; so wie die ganze Welt; so wie meine Tochter. Gerade erst erschaffen aus dem Nichts mit der Fülle einer unendlichen, wundersamen Kraft.
    Stundenlang streichelte ich meiner kleinen Anna über ihre feuerroten Haare, erfühlte die Beschaffenheit eines jeden ein –zelnen. In meinen Gedanken sprach ich mit ihr, erforschte ihre noch unbewusste Lebenskraft bis in jede Verästelung ihres Gehirnes. Ich unterhielt mich mit der Frau, die sie einmal sein würde.
    Ich verlor jedes Zeitgefühl, jede Ahnung von Selbstverständlichkeit. Es gab nichts Gewohntes, Alltägliches mehr. Nicht das Stück Brot auf meinem Teller, nicht das Wasser in meinem Becher. Ich sog jedes Bild in mich auf, das sich meinen Augen bot. Ich wusste nichts mehr von der Länge von Minuten, Stunden oder Tagen. Manchmal schien eine kleine Geste, die mein Mann machte, sich über Tage hinzuziehen. Manchmal kam der Abend, ohne dass ich den Tag überhaupt wahrgenommen hatte. Die Stunden waren aufgelöst in einer Unzahl einzelner Eindrücke und Bilder, die unabhängig voneinander existierten, ohne durch die Klammer eines bestimmten Zeitabschnittes verbunden zu werden.
    Die Augen meines Sohnes, die Händchen meiner Tochter, alle diese Bilder sind noch heute, Jahrzehnte später, tief in mir eingebrannt. Ich kann sie jederzeit aus mir hochholen und betrachten. Doch die eigentlichen Geschehnisse während dieser Wochen sind wie hinter einem dicken Nebelschleier verborgen. Ich erinnere mich an Umrisse, Schemen, an den Nachhall von Stimmen, doch nicht an die Menschen, die Orte, die Worte. Manchmal dachte ich, ich werde verrückt. Verrückt vor Angst.
    Nach der Abreise von Melchior Hegenzer ließen uns die Menschen erst einmal in Ruhe. Doch es war die Ruhe vor dem Sturm. Vielleicht schämten sie sich anfangs für das, was geschehen war. Ich weiß es nicht. Aber Menschen können Scham nur begrenzt ertragen. Mit der Zeit legen sie sich viele gute Gründe für ihr Tun zurecht.
    Konz war sich völlig sicher, dass sie wiederkommen würden. Deshalb bestand er darauf, dass ich nach Basel reiste. Heimlich, in der Nacht, wie eine Verbrecherin. Wie schon einmal.
    Magdalena von Hausen hatte einen Brief an Genoveva Rischac her geschickt. Wie damals bot die Familie mir wieder eine Heimat. Von Herzen wurde ich willkommen geheißen, ebenso wie meine Tochter und mein Sohn, die mit mir gehen sollten. Konz würde bleiben. Alles in ihm wehrte sich dagegen, vor der Situation wegzulaufen. Aber die Kinder und mich wollte er in Sicherheit wissen. Außerdem hatte er als Bannwart in Murg eine Aufgabe zu erfüllen. Das Gemüse musste aus der nassen Erde geholt werden, die Trauben an den Stöcken, die unser Haus umrankten, waren zu ernten, ehe sie vollends weg-faulten. Er würde es alleine ohnehin kaum alles schaffen. Da war es in gewissem Sinne eine Erleichterung, dass er nicht auch noch auf unseren Sohn aufpassen musste wie bisher. Denn seit die Gerüchte schlimmer geworden waren, hatte auch keine der Nachbarinnen sich mehr bereit gefunden, Thomas tagsüber in ihr Haus aufzunehmen und ihn zu versorgen. Die Feindseligkeit und die Angst bildeten einen Ring um meine kleine Familie wie Wasser um eine Insel.
    So ging ich also wieder einmal fort. Meinen Sohn an der Hand, meine Tochter schlafend im Tuch vor meiner Brust, ein kleines Bündel Habseligkeiten auf dem Rücken, so traf ich bei den Rischachers ein. Einer der Männer des Schönauers hatte uns in einer der Stiftskutschen ein Stück weit des Weges gebracht, bis es dämmerte. Dann musste er umkehren. Die letzten

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