Zeit des Lavendels (German Edition)
Meilen liefen wir, nur ungenügend geschützt vor dem grauen Nieselwetter. Wir waren völlig durchnässt, als wir endlich bei Genoveva ankamen. Doch sie scherte sich nicht darum, nahm meinen Sohn und mich herzlich in den Arm, betrachtete voll Wonne mein kleines Mädchen. Dann setzte sie uns direkt vor den warmen Herd, besorgte uns trockene Kleider. Denn auch das Bündel auf meinem Rücken war völlig durchweicht. Bald dampften unsere Sachen an der Leine am Kamin, Thomas und ich hielten eine Tasse heißen Kamillentees in der Hand, meine Tochter Anna war selig und trocken eingepackt an meiner bloßen Brust eingeschlafen. Ich habe mich noch niemals so willkommen gefühlt. Und noch niemals so unendlich einsam und ausgeliefert.
Genoveva Rischacher sorgte dafür, dass ich nicht allzu oft ins Grübeln kam. Thomas und die Rischacher-Buben freundeten sich schnell an. Mit einer für kleine Jungen erstaunlichen Geduld bezogen sie ihn, den Jüngsten, in ihre Spiele mit ein. So lernten seine Augen, die mich in den letzten Wochen manchmal angeschaut hatten, als wäre er ein Erwachsener, endlich wieder lachen, wie es sich für einen Dreijährigen gehört. Mit den Risc hacher-Buben heckte er all die Streiche aus, die kleinen Jungen so einfallen. Äpfel klauen, Honig stibitzen, die Katze am Schwanz ziehen, Frösche fangen, Mäuse suchen, sich Löcher in die Hosen reißen, von oben bis unten matschverschmiert heimkommen.
Genoveva konnte noch immer nichts aus der Ruhe bringen. Sie war inzwischen rundlicher geworden, die 32 Lebensjahre, die sie zählte, hatten die ersten Fältchen in ihre Augenwinkel und ihre Stirne gegraben. Doch ihre Augen lachten noch immer wie die eines jungen Mädchens. Manchmal kam ich, die zwölf Jahre Jüngere, mir dagegen vor wie eine alte Frau. Unser Verhältnis war ein anderes geworden. Inzwischen war ich ebenfalls Mutter, hatte Verantwortung, war nicht mehr das kleine, kindliche Mädchen, dem man so viel beibringen musste.
Ich hatte längst schon gelernt, einen Haushalt zuführen. So half ich, wo ich konnte. Denn meine Arbeitskraft war das Einzige, was ich den Rischachers für ihre Freundlichkeit geben konnte. Sie akzeptierten das so selbstverständlich, als gehörte ich zur Familie.
Zum ersten Mal seit Wochen spürte ich wieder in manchen Momenten ein Gefühl der Sicherheit, kehrte die Selbstverständlichkeit alltäglicher Verrichtungen zurück. Die Tage der Angst hatten tiefe Spuren in mir hinterlassen. Die Panik würde bei der ersten Gelegenheit wieder hervorbrechen und mich in ihrem Griff halten, das wusste ich. Doch vorerst genoss ich das Gefühl mit Arbeit ausgefüllter Tage, die mir keine Zeit ließen nachzudenken.
Mit der Zeit sprach sich auch in der Nachbarschaft herum, dass ich Kenntnisse von der Heilkraft der Kräuter und der segensreichen Wirkung des Wassers hatte. So wurde ich immer öfter gerufen, wenn es Krankheiten gab, egal ob bei Mensch oder bei Tier. Doch die Leute begegneten mir offen. Sie hatten Hoffnung in den Augen, wenn ich kam, ein Lächeln um die Lippen, wenn ich ging. Sie hielten mich offenbar für einen guten Menschen. Manchmal war ich versucht, selbst daran zu glauben. Doch ich wurde schnell eines Besseren belehrt. Denn Thomas Leimer kam zurück.
Es war inzwischen Herbst geworden. Der Oktober des Jahres 1549. Es hieß, Papst Paul III. sei schwer erkrankt, liege womöglich im Sterben. Ich war nun schon mehrere Wochen bei den Rischachers. Thomas und meine kleine Anna entwickelten sich prächtig. Auch in Basel waren Anzeichen von Hunger zu spüren, Menschen, die an die Türe kamen und um Brot bettelten, um ein Glas Milch oder getrocknete Früchte. Ich habe es nie erlebt, dass Genoveva jemanden wieder mit leeren Händen wegschickte. Sie gab, was sie entbehren konnte, manchmal sogar darüber hinaus. Sie gab frohen Herzens, ohne dass sie damit die Hoffnung verband, im Jenseits dafür belohnt zu werden. Sie gab, weil es in ihrer Art lag, zu geben. So ertönte das schüchterne Klopfen der Bettler an ihrer Türe immer öfter.
Meine kleine Anna war eine Quelle des ständigen Entzückens für Genoveva. Sie hatte sich so sehr ein Mädchen gewünscht. Doch bislang waren der Familie nur Söhne geboren worden. So gab sie ihr alle Liebe, die sie einer eigenen Tochter nicht geben konnte. Es war eine Zeit, die ich nie vergessen werde. Ebenso wenig wie die Tage, die danach kamen.
Es war ein kalter Montagabend, als es wieder einmal an unserer Türe klopfte. Ein junges Mädchen stand davor,
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