Zeit des Lavendels (German Edition)
Morgen erwartete er mich. In einen schwarzen Umhang gehüllt, stand er im Schatten eines Hauseingangs in der Nähe. Ich war schon früh wieder zu einem Patienten gerufen worden und bemerkte ihn zuerst überhaupt nicht. Es dämmerte gerade, ein grauer Oktobertag im Jahre 1549 brach an. Der Himmel war wolkenverhangen. Thomas Leimer verschmolz fast mit dem dunklen Grau in der Nische des Hauseingangs.
Ich ging in Gedanken versunken an ihm vorbei, gerade damit beschäftigt, mich zu fragen, ob ich auch alle Kräuter und Utensilien eingepackt hatte, die ich vermutlich brauchen würde. Ich musste zu einer jungen, schwangeren Frau, die im siebten Monat war und Blutungen bekommen hatte. Ich hoffte nur, dass ich helfen konnte und sie ihr Kind nicht verlor. Sie war erst siebzehn, und es war ihre erste Geburt. Ich kannte sie vom Sehen — ein junges, schüchternes, hübsches Ding, ein wenig verängstigt und hilflos. Wie auch mir hatte ihr ebenfalls niemals jemand erklärt, was es mit dem Kinderkriegen auf sich hatte. Dementsprechend verunsichert war sie. Ebenso wie ihr zwanzigjähriger Ehemann, der sich rührend um seine junge Frau sorgte. Er ging neben mir, völlig nervös, und störte mich immer wieder mit seinen ängstlichen Fragen in meiner Konzentration. Sich auf den Patienten in Gedanken vorzubereiten ist wichtig. Nur dann kann man schnell und richtig handeln, wenn es darauf ankommt.
So übersah ich fast die dunkle Gestalt in der Nische einer Haustür. Ich nahm sie nur ganz am Rande meines Verstandes aus dem Augenwinkel heraus wahr und war bereits einige Meter weitergelaufen, ehe mir der Schock des Erkennens durch die Glieder fuhr. Thomas Leimer sprach mich nicht an. Er stand einfach nur da, ganz still, und sah mir beim Vorübergehen zu. Mir zitterten die Knie beim Weiterlaufen. Doch Schritt für Schritt zwang ich mich, den Abstand zwischen ihm und mir zu vergrößern. Ich hatte alle Mühe, den Wirbel meiner Gefühle vor dem jungen, völlig aufgelösten Vater zu verbergen. Die Gedankenflossen wie zäher Leim durch meinen Kopf. Ich war froh, dass wir noch ein Stück des Weges in den Westen der Stadt zu gehen hatten. Das gab mir die Zeit, die unangenehmen Fragen in die hinterste Ecke meines Bewusstseins zu drängen und sie vorläufig zum Schweigen zu bringen. Ich wusste, später, nach dem Krankenbesuch, würden sie dafür umso heftiger über mich herfallen. Doch ich war inzwischen geschult genug, um es zu schaffen und innerlich wenigstens halbwegs zur Ruhe zu kommen, indem ich meine Gefühle einfach beiseite schob, so gut es eben ging.
Die junge Frau erwartete mich schon mit ängstlichen Augen. Mitten in der Nacht war sie mit Schmerzen aufgewacht und hatte festgestellt, dass sie blutete. Der Muttermund war bereits leicht geöffnet, doch es war nicht ganz so schlimm wie befürchtet. Das Kind würde sich vielleicht noch über die nächsten Wochen retten lassen, wenn sie sich ruhig verhielt und aufhörte im Haus zu arbeiten. Denn im Gespräch stellte sich heraus, dass sie wahrscheinlich zu schwer gehoben hatte. Sie wollte am Vortag einen großen Korb mit Wäsche in den Garten tragen, um sie aufzuhängen. Und dabei hatte sie den ersten Stich im Leib gespürt.
Ich schickte sie sofort ins Bett und schärfte dem jungen Paar ein, dass sie dort auch zu bleiben habe. Keine Arbeit mehr, keine Aufregung, so viel Ruhe wie möglich. Dann bereitete ich ihr einen Sud aus entkrampfenden und stärkenden Kräutern zu, eine Mischung aus Kamille, Knoblauch, Klatschmohn, Salbei und Schöllkraut, zur Beruhigung versetzt mit etwas Baldrian. Außerdem erklärte ich ihrem Mann, wie er ihr dreimal täglich einen stärkenden Trank zubereiten konnte. Das Rezept war eine der Spezialitäten der alte Nele. »Glückstee« hatte sie ihn immer genannt: ein Aufguss aus Arnika, Schafgarbe, Anis, Minze, Salbei, Basilikum und Eisenkraut — jeweils eine Prise von jeder Pflanze auf eine Schale Wasser. Er stärkte den Kreislauf. Für zwischendurch verordnete ich ihr möglichst kalten Brennnesselsaft und Bauchwickel mit kaltem Wasser. Als ich ging, lag sie schon friedlich in ihrem Bett und war fast eingeschlafen. Die Blutungen hatten beinahe aufgehört. Sie waren ohnehin nicht sehr stark gewesen.
Thomas Leimer sah ich auf dem Heimweg nicht mehr. Ich hatte bewusst eine andere Strecke gewählt. Doch mir war klar: Das war nur eine Galgenfrist. In meinem Kopf formten sich immer wieder zwei Sätze. »Was will er nur von mir?« Und: »Herr im Himmel hilf mir, mach,
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