Zeit des Mondes
stolperten weiter die Treppen hinauf.
Wir blieben stehen. Wir fassten uns an den Händen und spürten, wie wir zitterten. In unseren Köpfen herrschte die Dunkelheit des Hauses. Neben mir war nur noch Minas Gesicht, sein silbernes Schimmern.
„Wir müssen ruhiger sein“, flüsterte sie. „Wir müssen horchen, wie wir auf das Piepsen der Amseljungen gehorcht haben.“
„Ja“, sagte ich.
„Steh still. Tu nichts. Horch bis in die tiefsten Tiefen der Dunkelheit.“
Wir hielten einander an den Händen und hörten der Nacht zu. Wir hörten den endlosen Lärm der Stadt um uns herum, das Knarren und Krachen des Hauses, unseren eigenen Atem. Als ich genauer horchte, hörte ich das Atmen meiner Schwester tief in mir. Ich hörte von fern ihr Herz schlagen. Ich seufzte und wusste, dass sie in Sicherheit war.
„Hörst du?“, sagte Mina.
Ich horchte, und es war, als ob sie mich dazu bringe, das zu hören, was sie hörte. Es war, wie die Amseljungen im Nest piepsen zu hören. Es kam von oben, ein von weit her rasselnder, pfeifender Ton. Skelligs Atmen.
„Ich höre es“, flüsterte ich.
Wir stiegen die letzten Stufen hinauf zur obersten Tür. Behutsam und ängstlich drückten wir die Klinke herab und schoben die Tür auf.
Durch das bogenförmige Fenster kam Mondlicht. Skellig saß davor und beugte sich nach vorn. Wir sahen die schwarze Silhouette seines blassen Gesichts, seiner gebeugten Schultern, seiner an den Schultern zusammengefalteten Flügel. Unter den Flügeln sah man sein zerfetztes Hemd. Er musste uns gehört haben, als wir zur Tür hereingekommen waren, als wir uns an der Wand zusammengekauert hatten, aber er drehte sich nicht um. Wir sagten nichts. Wir trauten uns nicht, näher hinzugehen. Als wir ihn beobachteten, glitt ein Kauz lautlos vom mondhellen Himmel zum mondhellen Fenster herab. Er setzte sich auf den Rahmen. Er neigte sich nach vorn, öffnete den Schnabel, legte etwas auf das Fensterbrett und flog wieder weg. Skellig neigte den Kopf dorthin, wo der Vogel gesessen hatte. Er drückte die Lippen auf das Fensterbrett. Dann kam der Kauz, der eine oder der andere, wieder zum Fenster, setzte sich, öffnete den Schnabel und flog weg. Skellig beugte sich wieder nach vorn. Er kaute.
„Sie füttern ihn“, flüsterte Mina.
So war es. Jedes Mal, wenn die Käuze wegflogen, hob Skellig auf, was sie ihm dagelassen hatten, kaute und schluckte.
Schließlich drehte er sich zu uns um. Wir sahen weder seine Augen noch seine blassen Wangen; nur seine schwarze Silhouette vor der glänzenden Nacht. Mina und ich hielten einander an den Händen. Noch immer trauten wir uns nicht, zu ihm hinzugehen.
„Kommt zu mir“, flüsterte er.
Wir bewegten uns nicht.
„Kommt zu mir.“
Mina zog mich, führte mich hin zu ihm.
Er kam uns bis zur Mitte des Zimmers entgegen. Er stand aufrecht und wirkte stärker als je zuvor. Er nahm meine Hand und Minas Hand, und wir standen da, alle drei miteinander verbunden im Mondlicht auf den alten bloßen Bodenbrettern. Er drückte meine Hand, als wolle er mich beruhigen. Als er mir zulächelte, roch ich seinen Atem, den Gestank von dem, was die Käuze ihm gebracht hatten. Es würgte mich. Sein Atem war der Atem eines Tiers, das vom Fleisch anderer Tiere lebt: eines Hundes, eines Fuchses, einer Amsel, eines Kauzes. Noch einmal drückte er meine Hand und lächelte. Er machte einen Schritt zur Seite, und wir drehten uns zusammen, drehten uns langsam immer weiter, als ob wir vorsichtig und ängstlich zu tanzen begännen. Das Mondlicht beschien abwechselnd unsere Gesichter. Jedes Gesicht drehte sich aus dem Dunkel ins Licht, aus dem Dunkel ins Licht, aus dem Dunkel ins Licht, und jedes Mal, wenn die Gesichter Minas und Skelligs ins Licht kamen, waren sie noch silberner, noch ausdrucksloser. Ihre Augen waren noch dunkler, noch leerer, noch durchdringender. Einen Augenblick lang wollte ich mich von ihnen losreißen, aus dem Kreis ausbrechen, aber Skellig klammerte sich fester an mich.
„Nicht stehen bleiben, Michael“, flüsterte er.
Seine Augen und Minas Augen starrten tief in mich hinein.
„Nein, Michael“, sagte Mina. „Nicht stehen bleiben.“
Ich blieb nicht stehen. Ich bemerkte, dass ich lächelte, dass Skellig und Mina lächelten. Mein Herz raste und klopfte, und dann fand es in einen gleichmäßig wogenden Rhythmus. Ich spürte Skelligs und Minas Herzen im Einklang mit meinem eigenen schlagen. Ich spürte, dass ihr Atem im Rhythmus meines Atems ging. Es war, als ob
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