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Zeit des Mondes

Zeit des Mondes

Titel: Zeit des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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in die Krankenhausstation gegangen sei und dass er das Baby aus dem Glaskasten geholt habe. Er zog die Schläuche und Drähte heraus. Meine Schwester streckte die Arme aus und berührte mit ihren kleinen Fingern seine blasse trockene Haut und kicherte. Er nahm sie mit, flog, sie in seinen Armen haltend, durch den dunkelsten Teil des Himmels. Er landete mit ihr in der Wildnis und rief mich.
    „Michael! Michael!“
    Sie standen lachend da. Meine Schwester hüpfte in seinen Armen auf und ab. Sie waren nicht mehr schwach, sie waren wieder stark.
    „Michael!“, rief er und seine Augen glänzten vor Freude. „Michael! Michael! Michael!“
    Ich wachte auf. Wieder hörte ich die Käuze. Ich zog mir Jeans und einen Pullover an und ging auf Zehenspitzen die Treppe hinunter und in die Wildnis hinaus. Da war natürlich nichts, nur das Bild von ihnen brannte in meiner Seele. Ich hörte der Stadt ringsumher zu, ihrem leisen, tiefen, endlosen Dröhnen. Ich ging durch die Schatten hinaus auf den hinteren Weg. Obwohl ich wusste, dass es umsonst war, ging ich auf Minas mit Brettern vernageltes Haus zu. Etwas streifte mich.
    „Säusel“, flüsterte ich.
    Der Kater ging mit, schlich an meiner Seite.
    Die Gartentür war angelehnt. Der Mond stand inzwischen höher. Genau über uns. Der Garten hinter der Mauer war von seinem Licht überflutet. Mina wartete. Sie saß auf der Stufe vor der GEFAHR -Tür, die Ellbogen auf den Knien, das blasse Gesicht auf die Hände gestützt. Ich zögerte und wir beobachteten einander.
    „Was hat denn so lang gedauert?“, fragte sie.
    Ich schaute sie an.
    „Dachte schon, ich müsste alles allein machen“, sagte sie.
    „Dachte, du wolltest das.“
    Der Kater schlich an ihre Seite, streifte an ihren Beinen entlang.
    „Oh, Michael“, sagte sie.
    Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich setzte mich auf die Stufe unter ihr.
    „Wir haben dummes Zeug geredet“, sagte sie. „Ich habe dummes Zeug geredet.“
    Ich sagte nichts. Ein Kauz flog lautlos in den Garten herab und setzte sich auf die hintere Mauer.
    Huhu, schrie er. Huhu-huhu-huhu.
    „Sei nicht böse. Sei mein Freund“, flüsterte sie.
    „Ich bin dein Freund.“
    „Es ist möglich, seine Freunde zu hassen. Du hast mich heute gehasst.“
    „Du hast mich gehasst.“
    Der andere Kauz flog herab und setzte sich lautlos neben seinen Partner.
    „Ich liebe die Nacht“, sagte Mina. „Nachts, wenn der Rest der Welt schläft, scheint alles möglich zu sein.“
    Ich schaute auf in ihr silbriges Gesicht und in ihre rabenschwarzen Augen. Ich wusste, dass ich sie in einem Traum als Mond sehen würde, und Skellig flöge an ihr vorbei.
    Ich rutschte neben sie.
    „Ich werde dein Freund sein“, flüsterte ich.
    Sie lächelte, wir saßen da und schauten ins Mondlicht. Bald flogen die Käuze auf in Richtung Stadtzentrum. Wir lehnten uns an die GEFAHR -Tür. Ich spürte, wie ich einschlief.
    „Skellig!“, hauchte ich. „Skellig!“
    Wir rieben uns den Schlaf aus den Augen.
    Mina steckte den Schlüssel in das Schloss.

31
    Wir hatten keine Taschenlampe. Blasses, schwaches Licht fiel durch die Bretterritzen. Wir tappten durch das Dunkel. Wir hielten einander an den Händen und tasteten uns mit der anderen, freien Hand vorwärts. Wir stießen an die Wand. Wir blieben mit den Zehen an den losen Bodenbrettern hängen. Wir stolperten, als wir treppauf stiegen. Wir schlurften über den ersten Treppenabsatz. Wir suchten nach dem Griff der Tür zu dem Zimmer, in dem wir Skellig zurückgelassen haben mussten. Wir öffneten die Tür einen Spalt weit. Wir flüsterten: „Skellig!“ Keine Antwort. Wir bewegten uns mit ausgestreckten Armen vorsichtig vorwärts und tasteten uns bei jedem Schritt mit den Füßen weiter. Wir atmeten schnell, flach und zitternd. Mein Herz schlug heftig. Ich riss die Augen weit auf, starrte in das Dunkel und suchte auf dem Boden nach dem Umriss seines Körpers. Nichts war da, außer den Decken, dem Kissen, der Plastikschale, der Bierflasche, die vor meinen stolpernden Füßen wegrollte.
    „Wo ist er?“, flüsterte Mina.
    „Skellig“, flüsterten wir. „Skellig! Skellig!“
    Wir wandten uns wieder dem Treppenabsatz zu, stolperten weiter treppauf, öffneten viele Türen, starrten in die pechschwarzen Zimmer hinein, flüsterten seinen Namen, hörten nichts außer unserem Atmen, unseren unsicheren Schritten, sein Name hallte als Echo von den bloßen Bodenbrettern und den kahlen Wänden wider. Wir kehrten zum Treppenabsatz zurück,

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