Zeit für Eisblumen
zwischen wichtigen und unwichtigen Sachen unterscheiden? Würde es in Irland jemand zu schätzen wissen, dass ich eines der letzten Exemplare des neuen Chanel-Nagellacks bei Douglas erwischt hatte? Brauchte ich neben meinem Maniküre- und Pediküreset auch noch eine Wimpernzange und den Epilierer? Wohl kaum, aber wer wusste schon, was mich dort alles erwarten würde.
Ich konnte das Gefühl nicht abschütteln, irgendetwas Wichtiges vergessen zu haben. Aber was? Im Geist ging ich die Liste durch, die ich für Paul und mich gemacht hatte: warme Kleidung, mittelwarme Kleidung, Gummistiefel, Regenjacke, Regenschirm, das Outfit, das ich tragen wollte, wenn ich David gegenübertrat, mein Kosmetikkoffer, die Wickeltasche, ein paar Spielsachen, Pauls Kuscheltier. Ich hatte alles eingepackt.
Kurz bevor ich die Wohnung verließ, machte ich mir noch einen grünen Tee und ging damit auf den Balkon. Ich musste immerzu an Evas Worte denken. Sam hatte bereits bei unserem ersten Treffen gewusst, dass er mit mir zusammen alt werden wollte. Vorsichtig nippte ich an dem heißen Getränk. Auf einmal fiel mein Blick auf den kleinen Tisch in der Ecke des Balkons. Zwei Weingläser, auf deren Boden sich eine dunkelrote Flüssigkeit abgesetzt hatte, standen darauf. Im Aschenbecher daneben lagen fünf ausgedrückte Zigarettenstummel. An drei von ihnen befanden sich rote Lippenstiftspuren.
Auf einmal schoben sich die vereinzelten Puzzleteile, die bisher lose in meinem Kopf herumgeflogen waren, zu einem klaren Bild zusammen. Die ungewohnt ordentliche Wohnung, die leere Rotweinflasche in der Küche, Sams ungemachte Bettseite. Monika rauchte. Und außer nach ihren Schwimmeinheiten durch den Feringa See hatte ich sie nie ohne sorgsam nachgezogene Lippen gesehen.
Sam hatte sich mit ihr in unserer Wohnung getroffen. Da er sie aber nicht mit seinem üblichen Sauhaufen konfrontieren wollte, hatte er zuvor aufgeräumt. Die beiden tranken Rotwein und Sam ließ sich zu einer Zigarette überreden, obwohl er das Rauchen schon vor Jahren aufgegeben hatte. Anschließend gingen sie in unser Schlafzimmer und schliefen dort miteinander. Aber aus Respekt mir gegenüber hatte sich Sam bei seinem Liebesspiel auf seine Betthälfte beschränkt. Und damit sie von mir nicht bei ihrer heißen Affäre überrascht werden konnten, war Sam kurzerhand zu Monika gezogen. Das erklärte auch seine fehlende Zahnbürste und die abgestandene, muffige Luft in der Wohnung. Alles ergab auf einmal einen Sinn.
Ich lachte freudlos auf. Vielleicht hatte Sam vor 13 Jahren wirklich mit mir zusammen alt werden wollen, doch nach unserer Trennung schien er schnell einen Ersatz für mich gefunden zu haben.
Am nächsten Tag landeten Milla, Paul und ich auf dem Dubliner Flughafen. Das Ankunftsgebäude war modern, mit viel Glas und Metall und futuristischen weißen Weihnachtsbäumen, an denen blaue Lichterketten blinkten. Obwohl ich mit nichts anderem gerechnet hatte, versetzte es mir einen Stich, dass uns Irland anstatt mit Sonne und Schäfchenwolken mit einer undurchdringlichen grauen Wolkendecke und dicken Regentropfen empfing. Milla schien ähnliche Gedanken wie ich zu hegen, denn sie stöckelte missmutig neben mir her. Sie war den gesamten Flug über schon ungewohnt schweigsam gewesen, hatte mit düsterem Gesicht aus dem Fenster hinaus ins Nichts gestarrt oder lustlos in Bölls Irischem Tagebuch geblättert. Paul dagegen war bestens gelaunt. Er hatte den ganzen Flug verschlafen, war topfit und kommentierte alles um ihn herum mit „Da!“ und einem bis in die letzte Muskelfaser angespannten Zeigefinger. Seitdem mein Koffer auf einem Flug nach London aus Versehen in Paris gelandet war und mich mein Besuch nicht zuerst zum Buckingham Palace oder Big Ben, sondern zu einem Drogeriemarkt und in ein Unterwäschegeschäft geführt hatte, war ich immer recht angespannt, bis ich ihn in der Hand hielt. Doch überraschenderweise kam er bereits als Zweiter auf dem Förderband eingetrudelt, auch Millas Louis-Vuitton-Imitat ließ nicht lange auf sich warten. Ich verdrängte das mulmige Gefühl, das mich beschlich, wenn ich an das angelsächsische Linksfahrgebot dachte, setzte Milla und Paul auf einer Bank ab und ging mit energischem Schritt auf die irische Autovermietung thrifty zu, um den Fiat Punto abzuholen, den ich von Deutschland aus gemietet hatte.
Die Frau in der Autovermietung sah aus wie eine Schwester von Herrn von Bödefeld. Sie hatte eine birnenförmige Figur, ihren Kopf zierte eine
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