Zeit für Eisblumen
orangefarbene Dauerwelle und sie war so klein, dass sie selbst stehend kaum über den Tresen schauen konnte. Augenblicklich empfand ich so etwas wie Mitleid mit ihr. Doch dieses Mitleid legte sich sofort, als ich herausfand, dass sie der Figur aus der Sesamstraße nicht nur auf irritierende Weise ähnelte, sondern auch genauso dreist war wie diese. Hochmütig musterte sie mich und weigerte sich hartnäckig, mein Englisch zu verstehen, von dem ich wusste, dass es nicht perfekt war, aber doch ausreichen sollte, um nach einem Mietwagen zu verlangen. Ganze drei Male musste ich den Satz „Ich habe ein Auto bei Ihrer Agentur gebucht und möchte es abholen“ wiederholen, bis sie sich mit mürrischem Gesicht an den Computer setzte und auf dessen Tastatur herumtippte.
„Ihren Führerschein, bitte!“, forderte Frau von Bödefeld mich nach einigen Minuten auf, ohne ihren Blick auf mich zu richten. Ich kramte aus meiner Handtasche meinen Geldbeutel hervor und öffnete ihn. Das Fach, in dem der Schein sich normalerweise befand, war leer. Das konnte nicht sein! Hektisch durchsuchte ich auch alle weiteren Fächer, schaute selbst hinter meinen EC- und Visakarten nach und leerte schließlich alles auf dem Tresen der Autovermietung aus. Der Inhalt meiner Handtasche folgte. Doch der Führerschein tauchte nicht auf. Hilflos blickte ich die Frau an.
„Er ist weg“, stammelte ich. Mein Gott!
Verzweifelt suchte ich nach so etwas Ähnlichem wie Anteilnahme in den Knopfäuglein von Frau von Bödefeld.
Doch die blieben undurchdringlich und sie zuckte mit den Schultern. „Ohne Führerschein kein Auto.“
„Können Sie keine Ausnahme machen?“
„Nein.“
Welche Überraschung! Und natürlich konnte sie mir auch das überwiesene Geld nicht zurückzahlen.
„Du hast deinen Führerschein vergessen?“ Milla zog ihre Augenbrauen hoch.
„Ja.“
„Aber den trägt man doch normalerweise immer bei sich. Im Geldbeutel, in der Handtasche oder …“
„Im Auto“, unterbrach ich sie. „Und der Mini ist, wie du weißt, zu Hause.“
Innerlich tat ich sofort Abbitte für diese klitzekleine Notlüge. Aber meine Mutter sollte nicht wissen, dass ich den Führerschein vor einigen Wochen aus meinem Portemonnaie herausgenommen hatte, um im Vergleich Passfoto-Spiegel wehmütig festzustellen, wie alt ich in den letzten Jahren geworden war. Damals hatte meine Wangenpartie nicht an eine Dänische Dogge erinnert und der Schwerkraft noch tapfer getrotzt.
„Und nun?“, wollte Milla wissen. Es gehörte zu ihren besseren Charaktereigenschaften, dass sie die Schusseligkeiten ihrer Mitmenschen meist kommentarlos hinnahm. Wahrscheinlich, weil sie selbst ständig etwas vergaß.
„Du wirst dich ans Steuer setzen müssen.“
„Aber hier herrscht Linksverkehr.“ Sie schien nicht mehr ganz so gefasst. „Ich habe von Anfang an gesagt, dass ich auf keinen Fall in Irland Auto fahren werde.“
„Nach fünf Minuten wirst du dich daran gewöhnt haben. Es kommen dir schließlich ständig andere Autos entgegen und zeigen dir, welches deine Fahrbahnseite ist.“
„Nein, das kann ich nicht.“ Millas Gesicht hellte sich auf einmal auf. „Außerdem habe ich auch keinen Führerschein dabei.“
„Das glaube ich dir nicht.“
„Doch, wirklich.“ Sie öffnete den Reißverschluss ihrer Jacke und zog einen Brustbeutel heraus. „Seitdem Mia in Rom ihre Handtasche mit Geldbeutel und Rückflugticket geklaut worden ist, nehme ich mein Portemonnaie nicht mehr mit ins Ausland und trage nur noch das Nötigste bei mir. Also ein bisschen Geld, Ausweis und Kreditkarte.“
Ich starrte sie an. Sie hatte nicht einmal den Anstand, so zu tun, als ob es ihr leidtäte.
„Müssen wir denn unbedingt nach Galway fahren?“, fuhr sie in dem Ton eines quengelnden Kindes fort. „Wir könnten uns ein schnuckeliges kleines Wellness-Hotel an der Ostküste nehmen, spazieren gehen, Schafe streicheln. Ich finde es sowieso eine Schnapsidee, mit einem Neugeborenen bei dieser Jahreszeit diese unwirtliche Gegend erkunden zu wollen.“
„Paul ist fast elf Monate alt und die Westküste ist viel sehenswerter als die Ostküste. Und überall kannst du nachlesen, dass Galway der kulturelle Höhepunkt einer jeden Irlandreise ist.“
Schon wieder eine Notlüge, denn laut dem Iwanowski-Reiseführer für individuelle Entdecker hatte Galway zwar eine rege Musikszene und konnte in der Innenstadt mit vielen kleinen Geschäften und Pubs aufwarten, war ansonsten aber eher arm an
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