Zeit für Eisblumen
Rotwein auf der Anrichte. An den Fliesen über dem Herd klebte der kleine weiße Zettel. „Für immer du ♥!“ Sam hatte ihn mir geschrieben, kurz bevor Paul auf die Welt gekommen war. Damals hätte ich nicht im Traum daran gedacht, dass dies die letzten romantischen Worte waren, die er an mich richten würde. Obwohl, das stimmte nicht ganz. Als Paul und ich aus dem Krankenhaus gekommen waren, hatte ein Banner an der Tür seines Kinderzimmers geklebt: „Schön, dass ihr wieder da seid, ihr beiden Süßen.“ Zu diesem Zeitpunkt musste ich den ersten Platz in Sams Herzen jedoch schon teilen.
Ich ging zu Pauls Kleiderschrank und stopfte wahllos einige Bodys, Strumpfhosen und Halstücher in meine Tasche. Über seinem Wickeltisch hing das Mobile mit den Schäfchen und dem Schäfer und auf dem Regal daneben lagen Kinderbücher und sein Babyalbum. „Unser kleiner Prinz“ stand darauf. Nachdem ich ein paar Hosen und Pullover für Paul eingepackt hatte, setzte ich mich auf den blauen Stillstuhl, legte die Füße hoch und öffnete es. Bis auf die erste Seite, die mich mit einem riesigen Babybauch zeigte, war es leer. Nachdenklich betrachtete ich das Bild. Es war zwei Wochen vor der Geburt aufgenommen worden und ich ähnelte darauf dem Männchen aus der Michelinwerbung. An den Füßen hatte ich solche Wassermengen eingelagert, dass mir nur noch UGG Boots und Birkenstockschuhe passten, und selbst bei denen musste ich den obersten Riemen offen lassen. Mein Bauch war so prall, dass er meine Umstandshosen sprengte, und ich lief ausschließlich in einer XXL-Jogginghose herum, die Sam für mich im C&A gekauft hatte, da ich mich selbst nach wenigen Metern zu Fuß wie nach einem Marathonlauf fühlte. Meine Kreuzschmerzen brachten mich fast um. Ich träumte von einer Massageliege, die neben einem Loch für mein Gesicht auch eines für meinen Bauch hatte, so groß war mein Wunsch, in einer anderen Schlafposition als auf der Seite zu liegen. Da ein solches Gerät aber noch nicht erfunden war, hatte ich kurz entschlossen Sam zu einer solchen Liege umfunktioniert. Wenn er auf der Couch saß, passte mein Bauch genau zwischen seine gespreizten Beine und darüber hinaus konnte er in dieser Position auch noch prima meinen schmerzenden Rücken mit zwei Igelbällen massieren. Ich fühlte mich wie ein gestrandeter Wal und musste auch genauso viel gewogen haben, doch Sam beschwerte sich nie und massierte mich, ohne zu murren Tag für Tag durch das abendliche Fernsehprogramm hindurch.
Nur widerwillig schlug ich schließlich das Buch zu. Ich würde es mit nach Irland nehmen und dort mit Millas Hilfe versuchen, die Zeit nach Pauls Geburt zu rekonstruieren, um den leeren Seiten Leben einzuhauchen.
Nach einigem Zögern steckte ich auch „O wie schön ist Panama“ von Janosch in meine Tasche. Mit fünf hatte ich dieses Buch geliebt, war aber untröstlich darüber gewesen, als ich Jahre später feststellen musste, dass der kleine Bär und der kleine Tiger am Ende ihrer Reise das Land, das nach Bananen duftete, gar nicht gefunden hatten, sondern genau dort ankamen, wo sie aufgebrochen waren. Das Buch hatte ich danach nie wieder angerührt. Vielleicht sollte ich ihm noch eine Chance geben!
Lustlos schleppte ich mich ins Schlafzimmer, bewusst bemüht, nicht auf meine verwaiste Bettseite zu schauen. Ich öffnete meinen Schrank, zog wahllos einige Kleidungsstücke heraus und warf sie aufs Bett. Die schönen Stücke passten mir sowieso nicht mehr. Bedauernd strich ich über einen cognacfarbenen Lederrock und ließ den fließenden Stoff eines schwarzen Cocktailkleides durch meine Finger gleiten. Alles Relikte aus einem anderen Leben. Und erst meine Sportoutfits! Hatte ich wirklich in diese winzigen türkisfarbenen Hotpants hineingepasst? In das hautenge weiße Top? Anschließend ging ich ins Badezimmer. Dort schmiss ich als Erstes meine elektrische Zahnbürste in meine Tasche und die Ladestation gleich hinterher. Sollte Sam sich doch mit einer normalen Bürste die Zähne putzen! Ich hatte es die letzten Tage schließlich auch getan. Außerdem konnte ich sein Elektromodell sowieso nirgendwo finden. Wahrscheinlich war er beim Zähneputzen durch die Wohnung gerannt und hatte es irgendwo stehen lassen.
„Fee, hast du meine Zahnbürste gesehen?“, hörte ich ihn fragen.
„Nein, denn dafür bin ich nicht mehr zuständig“, antwortete ich brüsk.
Ich kramte in meinem Kosmetikkorb herum. Alles würde ich nicht mitnehmen können. Aber wie sollte ich
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