Zeit für Eisblumen
Wärme schlug uns entgegen und Paul verstummte augenblicklich. Die gepflegt aussehende, mollige Frau an der Rezeption verzichtete darauf, uns nach der Qualität unserer Anreise zu fragen und überreichte uns direkt den Zimmerschlüssel.
Nachdem Paul und ich fünfzehn Minuten unter der heißen Dusche gestanden hatten und in sauberen und trockenen Kleidern steckten, ging es mir besser. Auch Millas Räucherstäbchenattacken zur Vertreibung böser Energien und die Kristalle unter unserem Bett zur Neutralisierung eventueller Wasseradern konnten mich dieses Mal nicht schockieren. Mit Paul lag ich auf dem Bett und wir schauten uns „Oh wie schön ist Panama“ an.
„Da!“, sagte Paul entzückt, wenn er den kleinen Bären sah und zeigte mit seinem dicken Zeigefinger auf die Figur. „Brumm!“
Er liebte dieses Buch. Ich selbst fand jedoch das Ende nach wie vor unbefriedigend. Da erlebten der Bär und der Tiger ein Abenteuer nach dem anderen, nur um am Ende genau dort anzukommen, von wo sie aufgebrochen waren und versanken erneut im Alltagstrott. War das so erstrebenswert?
„Hast du Hunger?“, fragte ich Milla, die auf dem Bett lag und in der Hotelinformation blätterte. „In der Hotelbar kann man Snacks zu sich nehmen.“
„Einen Snack, nein, danke.“ Sie schüttelte den Kopf. „Nach dieser Fahrt brauche ich mehr als ein Sandwich oder einen Salat. Wir beide gehen heute Abend ins Blue Wave.“ Sie hielt mir einen Flyer des preisgekrönten Hotelrestaurants entgegen, der auf ihrem Nachttisch gelegen hatte. „Sie bieten diese Woche ein Spezialmenü für zwei Personen an. Drei Gänge inklusive Wasser und einem Glas Wein für 65 Euro.“
„Aber es ist schon fast acht. So spät willst du dir noch den Magen vollstopfen?“ Der Gedanke an ein dreigängiges Menü war zwar verlockend, doch ich war mir sicher, dass ich weder den kohlehydrathaltigen Beilagen noch dem zucker- und fetthaltigen Dessert widerstehen konnte, wenn alles erst einmal vor mir stand. Dabei hatte ich gestern Abend erst gesündigt und zwei Scheiben Vollkornbrot gegessen.
„Keine Widerrede. Das gönnen wir uns.“ Milla schwang sich hoch und griff nach ihrer Tasche.
Mit einem wohligen Seufzer stellte ich das Babyphon auf den Tisch, ließ mich in den samtbezogenen Stuhl sinken und genoss den beeindruckenden Blick auf die Bucht und den dahinterliegenden Berg Croagh Patrick. Kerzen beleuchteten den Raum, in einer Ecke flackerte ein Feuer und aus den Boxen ertönte gedämpfte Pianomusik. Mein Widerstand gegenüber einem opulenten Menü war schnell dahingeschmolzen. Doch der Kellner reichte uns die Speisekarte. Irritiert betrachtete ich sie. Auch Milla runzelte die Stirn.
„Die werden uns doch nicht übers Ohr hauen wollen“, flüsterte sie. „Für 65 Euro bekommen wir kaum zwei Hauptspeisen, wenn wir à la carte essen.“
Sie rief den Ober zu sich.
„Sie können sich Ihr Menü aus der Karte zusammenstellen“, erklärte er freundlich.
„Ich kann aus all diesen Speisen auswählen?“ Milla zog ungläubig die Augenbrauen zusammen.
Der Ober nickte.
„Und das Menü kostet nur fünfundsechzig Euro für uns beide.“
Er nickte erneut und Milla bekam glänzende Augen.
„Hast du die Preise gesehen? Bereits die billigste Vorspeise, das Parfait of St. Tola Goat Cheese, kostet fünfzehn Euro“, juchzte sie.
„Sei bitte nicht so laut.“ Ihre Pfennigfuchserei war mir peinlich.
Doch sie ließ sich nicht beirren. „Und der Kelly´s of Newport Roast Black Pudding sogar zwanzig.“
„Weißt du überhaupt, was dieser Black Pudding ist?“
„Nein. Aber er schmeckt mit Sicherheit. In solchen Restaurants schmeckt alles. Als Hauptspeise nehme ich das Fish Special of the Evening für 30 Euro. Wenn ich noch als Dessert den Honey and Orange Baked Apple für sieben Euro bestelle, ist allein mein Essen teurer als unser gesamtes Menü. Das heißt, wenn du dir das Gleiche bestellst wie ich, haben wir die Kosten für den Mietwagen fast reingeholt.“
Ich musste grinsen. Das würde ich nicht tun. Und auch Milla würde ihre Auswahl garantiert überdenken, wenn ihr Englisch ein wenig besser wäre.
Milla war zwar ein wenig enttäuscht, als sie ihren Black Pudding vor sich stehen sah, hatte sie sich doch etwas Spektakuläreres erhofft als gebackene Blutwurst, doch tatsächlich schmeckte diese noch nicht einmal schlecht. Ich selbst hatte mich zu ihrer großen Enttäuschung für die etwas billigeren Pan-Seared Clew Bay Scallops entschieden und als Hauptspeise
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