Zeit für Eisblumen
sehen.
Ein Taxi hielt vor der Tür und hupte.
„Gehen wir raus“, meinte ich gottergeben. Vielleicht ergab sich unterwegs noch eine Möglichkeit, Milla abzuhängen.
Je weiter wir nach Achill Island vordrangen, desto mehr verblich die vorher noch so üppig wirkende Landschaft zu einer kargen Wüste aus Geröll und verdorrtem Gras. Das blendende Grün der Wiesen wurde schmutziger, Rhododendren wichen zerklüfteten Felsbrocken. Die Anzahl der Schafe überstieg die der weiß gekalkten Cottages um ein Vielfaches.
„Mayo – God help us!“, murmelte Milla, als wir die breite Drehbrücke überquerten, die Achill Island mit dem Festland verband.
„Was sagst du?“
„Die Gegend, durch die wir gerade fahren, gehörte früher zu den ärmsten in Irland. Vier Einwohner mussten auswandern, damit der Fünfte überleben konnte. Wenn jemand aus einem reicheren Bezirk den Namen Mayo erwähnte, hauchte er stets ein ‚God help us!‘ hinterher. So steht es zumindest in Bölls Irischem Tagebuch.“
„Möchtest du in Doogort aussteigen und dir das Cottage, in dem Böll gelebt hat, anschauen? Ich fahre weiter zu meinem Studienkollegen.“ Ich sah Milla hoffnungsvoll an.
„Möchtest du das Häuschen denn nicht sehen?“ Sie blickte irritiert von ihrer Lektüre hoch.
„Nein, ich würde lieber direkt zur Keem Bay fahren.“
„Aber ich schaue mir doch nicht drei Stunden ein Cottage an.“
„Du könntest dort klingeln und dich von den Besitzern herumführen lassen. Ich habe gehört, dass die Nachkommen von Böll es Schriftstellern und anderen Künstlern zur Verfügung stellen. Es wäre bestimmt spannend, mit ihnen zu plaudern.“
„Bestimmt wäre es das.“ Milla kramte ihren Reiseführer aus dem Rucksack. „Aber hast du auch das hier gesehen?“ Sie tippte auf ein Foto, auf dem eine Plakette abgebildet war. Darauf stand:
Dies ist ein privater Ort der Ruhe, bitte respektieren Sie die Ruhe der Gäste und Künstler, die hier für einige Wochen leben und an ihren Werken arbeiten.
„Aber ganz in der Nähe liegt ein verlassenes Dorf.“ Ich zog ihr den Reiseführer aus der Hand. „Hier: ‚Im verlassenen Dorf von Slievemore können Sie sich in längst vergangene Zeiten auf Achill Island zurückversetzen lassen.‘ Interessiert dich so etwas nicht?“
„Doch. Aber warum können wir nicht zusammen nach Doogort und zu dem verlassenen Dorf fahren und anschließend zu deinem Studienkollegen?“
„Aber was willst du denn an der Keem Bay? Dort gibt es nichts zu sehen und David kennst du auch nicht.“
„Mein Gott!“, sagte Milla wütend. „Willst du mich loswerden? Ich dachte eigentlich, dass wir uns in Irland ein paar schöne Tage machen, aber langsam glaube ich, dass du nur einen kostenlosen Babysitter für Paul gebraucht hast.“
„Nein, nein. Ich befürchte nur, dass du dich langweilen wirst. Aber gut, wenn du unbedingt mitkommen möchtest, dann machen wir es so, wie du es gesagt hast. Erst Doogort und das verlassene Dorf, dann zur Keem Bay.“
Doogort war ein Dörfchen mit vielen weißen Cottages, das am Fuß des Berges Mount Slievemore lag und einen schönen Sandstrand hatte. Eine Schar Möwen stieg auf, als wir aus dem Bus ausstiegen, und ihr heiseres, trostloses Schreien begleitete uns auf dem Weg durch den Ort.
„Können Sie uns sagen, wo wir das Haus des Schriftstellers Heinrich Böll finden?“, fragte ich eine etwa vierzigjährige Frau, die vor ihrer Haustür stand und Laub zusammenfegte.
„Es ist ein wenig außerhalb, in der Nähe der Kirche.“ Sie zeigte vage in eine Richtung und widmete sich dann mit voller Konzentration ihrer Arbeit.
Ein älterer Mann, der gerade in sein Auto steigen wollte, murmelte etwas von „die Hauptstraße wieder zurück und an der Palme gleich rechts “, als wir nach zehnminütiger Suche weder das Gotteshaus noch das Cottage fanden. Selbst ein kleiner Junge, der mit einem Stock einen Ball vor sich hertrieb, zeigte wortlos in eine Seitenstraße und rannte dann fort.
„Vielleicht sollten wir eines von diesen Hühnern hier fragen?“, meinte Milla ärgerlich, als wir in einen Hof einbogen und dabei einen Hahn und dessen Frauenschar aufschreckten, die laut protestierend davonliefen. „Hier geht es auch nicht weiter. Es kann doch nicht so schwer sein, dieses Cottage zu finden. Der eine sagt, die Hauptstraße rauf, der andere die Hauptstraße runter. Die Leute hier wollen uns wohl für dumm verkaufen.“ Sie stampfte mit dem Fuß auf. „Aber ich bin nicht so weit
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