Zeit für Eisblumen
die Lemon and Thyme Marinated Chicken Breast gewählt. Obwohl ich auf das Dessert zugunsten eines Espressos verzichtete, war ich nach dem Essen so satt, dass ich sicher war, die nächsten zwei Tage nichts zu mir nehmen zu können. Die Portionen waren riesig gewesen. Auch Milla rieb sich den Bauch.
„Selbst wenn es mit zusätzlichen Kosten verbunden ist, muss ich mir noch einen Grappa oder etwas Ähnliches bestellen. Sonst kann ich nicht aufstehen.“
Unbehaglich rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her. Jetzt, da Paul nicht bei uns war und wir gegessen hatten, wusste ich nicht, was ich mit ihr reden sollte. Als das Schweigen zwischen uns gar zu drückend wurde, kramte ich in meiner Tasche nach meinem Handy. Mehrere Werbemails, aber keine Nachricht von Sam. Nicht zu fassen!
„Immer noch nichts von Sam gehört?“, erkundigte sich Milla.
Ich schüttelte bemüht ungerührt den Kopf. „Hat Papa sich bei dir gemeldet?“
„Ja, bereits drei Mal.“
Ich schaute überrascht auf. Wir waren erst zwei Tage weg. So etwas sah ihm überhaupt nicht ähnlich.
„Wollte er wissen, wo er einen Topf findet oder braucht er die Nummer vom Pizzadienst?“
„Er sagt, er vermisst mich.“ Milla zuckt die Achseln. „Hier in Irland scheine ich mystische Magnetwellen zu entwickeln.“
„Ihr versteht euch in letzter Zeit nicht besonders gut?“ Ich stellte ihr die gleiche Frage wie meinem Vater auf Lillys Hochzeit. Doch während er kommentarlos darüber hinweggegangen war, nickte Milla.
„Seitdem er die Kanzlei verkauft hat, ist er schwierig. Ich dachte, wir würden nach seinem Ruhestand reisen, etwas von der Welt sehen, uns wieder näher kommen. Aber er zieht sein eigenes Ding durch, für meine Bedürfnisse interessiert er sich nicht.“
„Vielleicht bist du zu streng mit ihm. Er hat jahrelang Tag und Nacht geschuftet und auf einmal sitzt er die ganze Zeit daheim rum. Es ist doch normal, dass er danach erstmal in ein Loch fällt und Zeit für seine Hobbys haben möchte.“
„Und dass er mit mir tagelang nicht redet, ist das auch normal? Und wenn ich ihn darauf anspreche, was mit ihm los ist, schnauzt er mich an. Ich komme überhaupt nicht mehr an ihn heran. Und dann dieser Ohrring und die dämlichen Karohosen, mit denen er den ganzen Tag herumrennt. Haben Sie noch Sex oder spielen Sie schon Golf? Früher habe ich diese Frage nie so recht verstanden, jetzt weiß ich, was damit gemeint ist.“
Ich verzog das Gesicht. „Too much information.“ Provozierend fügte ich hinzu: „Gibt es überhaupt noch etwas, was du an ihm magst?“
„Ja, Oldtimer-Cabrio. Im Sommer hat er es mir ein paar Male ausgeliehen und ich bin damit mit Inge nach München gefahren und zum Starnberger See. Wir hatten Sonnenbrillen auf und Kopftücher und …“
Meinte sie das etwa ernst? „Sonst noch etwas? Etwas, das ein bisschen weniger materialistisch ist?“
Milla schüttelte den Kopf.
„Wirklich nicht?“
„Nein.“
„Und warum bist du noch mit ihm zusammen?“
Sie sah mich müde an. „Diese Frage habe ich mir in den letzten Monaten schon des Öfteren gestellt.“
„Aber du wirst ihn doch nicht verlassen, oder?“
Milla drehte den Stiel ihres Rotweinglases zwischen den Fingern hin und her. „Am meisten treiben mich seine ständig wechselnden Hobbys zur Weißglut. Erst kauft er sich eine komplette Schwimmausrüstung. Von der Brille bis zum Schwimmbrett. Dann das Rennrad. Jetzt seit drei Monaten das Golfspielen. Fehlt nur noch, dass er in Stretchhose, Gummistiefeln und einer Reitkappe vor mir steht. Nebenbei schreibt er an seiner Biografie – als ob die jemand lesen wolle –, er hat sich Bongotrommeln gekauft und letzte Woche kam er auf die Idee, dass ein großer Künstler in ihm steckt. Er hat alles im Haus golden angesprüht und zu Objekten verarbeitet. Sogar eines meiner Küchensiebe und ein paar Gartenzwerge.“
„Aber es ist doch schön, dass er so vielfältige Interessen hat. Wäre es dir lieber, wenn er nur zu Hause herumsitzt und die Wand anglotzt?“
„Vielleicht.“ Sie starrte immer noch vor sich hin.
„Du hast mir übrigens noch keine Antwort auf meine Frage gegeben.“ Ich tippte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden und merkte, dass ich nervös auf einer Haarsträhne herumkaute. „Denkst du darüber nach, ihn zu verlassen?“
„Manchmal.“ Milla hielt ihren Blick stur auf die dunkelrote Flüssigkeit gerichtet.
„Was heißt manchmal? Ja oder nein? Denkst du darüber nach, Papa zu verlassen?“ Ich nahm
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