Zeit für Eisblumen
ich weiß nicht, ob ich mir das zutraue. Du bist überhaupt nicht greifbar, wenn etwas mit ihm ist.“ Milla sah mich unentschlossen an.
„Was soll denn mit ihm sein? Außerdem hast du vier Töchter großgezogen.“
„Das ist aber schon über fünfzehn Jahre her.“ Sie betrachtete eingehend ihre Fingernägel. Doch auf einmal erhellte sich ihre Miene. „Heinrich Böll hat lange Zeit auf Achill Island gelebt.“
Jetzt war ich an der Reihe, nach Luft zu schnappen. „Weißt du was! Ich nehme Paul doch mit und du fährst mit Bennett auf die Aran Islands“, versuchte ich das Unglück noch abzuwenden. Doch zu spät!
„Nein, nein“, sagte Milla. „Die Aran Islands können warten.“ Sie hakte sich unternehmungslustig bei mir unter. „Komm, wir gehen noch einmal zum Reisebüro zurück und lassen uns von der netten Frau ein Wellness-Hotel an der Küste empfehlen.
Auf unserer Fahrt nach Westport verschlechterte sich das Wetter zunehmend. Hatte es am Morgen und Mittag nur leicht genieselt, so peitschte bald ein wütender Wind erbsengroße Regentropfen gegen die Fenster und ließ den Bus auf ungeschützten Geraden beunruhigend von rechts nach links schwanken. Draußen war es stockdunkel, nur hin und wieder gaben die Wolkenfetzen den Blick auf einen fast kreisförmigen Mond frei. Milla hatte die Augen geschlossen. Ihre Hände lagen mit den Handrücken auf ihren Knien. Daumen und Zeigefinger hielt sie fest zusammengepresst. Wahrscheinlich flehte sie gerade sämtliche Schutzengel, die sie kannte, um Beistand an. Auch mir war angesichts der immer heftiger werdenden Böen und des Fahrers, der sein Gefährt mit unbeirrt hoher Geschwindigkeit durch die nassen Straßen lenkte, ein wenig mulmig zumute. Paul stand ungeachtet unserer Endzeitstimmung auf meinem Schoß, patschte mit beiden Händen gegen die klamme Scheibe und zog mit seinen Fingern die herunterrinnenden Regenstraßen nach.
Am Bahnhof von Westport mussten wir in ein Taxi umsteigen. Meine Mutter zog ihren Schirm aus der Tasche, um sich vor dem Regen zu schützen. Doch kaum hatte sie den Bus verlassen und ihn aufgespannt, wurde er auch schon von einem Windstoß nach außen gedreht. Eine Speiche brach und schaukelte wild hin und her. Ich packte Paul unter meine Jacke, zerrte mit der freien Hand meinen Koffer aus dem Gepäckraum des Busses heraus und rannte zu dem erstbesten Taxi, das vor dem Bahnhofsgebäude auf Fahrgäste wartete. Der Regen peitschte mir frontal ins Gesicht. Ich schob Paul in das Auto, keuchte dem Fahrer ein „Atlantic Coast Hotel“ entgegen und wollte mich gerade schon erleichtert in das Sitzpolster sinken lassen, als mir einfiel, dass ich den Kinderwagen im Bus vergessen hatte und ich lief noch einmal zurück. Als ich wieder im Taxi saß, war ich klatschnass, ich hatte Haare im Mund und meine Wimperntusche lief als schwarzes Rinnsal meine Wangen hinunter. Milla, die neben dem Fahrer Platz genommen hatte, sah nicht viel besser aus. Sie hatte noch ein paar Male versucht, ihren widerspenstigen Schirm in Form zu bringen, ihn aber, als es ihr nicht gelang, wütend in eine Hecke geworfen.
„Na ja“, meinte sie und schüttelte sich wie eine nasse Katze, was ihr einen unfreundlichen Blick unseres Fahrers einbrachte. „It could be worse, sagt der Ire.“
„Meinst du?“ Ich sah sie skeptisch an.
Milla zuckte mit den Achseln. „Nein. Aber unser Bus hätte auch umkippen oder wir hätten von einem Baum erschlagen werden können. So gesehen haben wir sogar Glück gehabt.“
Mit seinen verwitterten dunkelgrauen Natursteinen erinnerte das Atlantic Coast Hotel auf den ersten Blick eher an ein Gefängnis als an ein Vier-Sterne-Hotel. Ein Fensterladen hatte sich durch das Unwetter gelöst und schlug krachend gegen die Hauswand, ein Papierkorb war aus seiner Verankerung gerissen worden und trieb mit seinem durchweichten Inhalt ziellos durch die Straße.
Der Taxifahrer hielt genau vor dem Eingang in einer Pfütze. Ich gab ihm ein fürstliches Trinkgeld, um sicherzustellen, dass er unsere Koffer und den Kinderwagen ausladen würde, und preschte, gefolgt von Milla, durch die Glastür hindurch ins Innere des Hotels. Fast wäre ich mit einem weißen Tannenbaum zusammengeprallt, der sich in der Mitte des Foyers befand, so eilig hatte ich es, Regen, Wind und Kälte zu entfliehen. Außerdem hatte Paul auf den letzten Metern zu jammern begonnen und es war nur eine Frage der Zeit, bis dieses Jammern zu einem ausgewachsenen Protestgeheul anschwellen würde.
Weitere Kostenlose Bücher