Zeit für Plan B
damit an?«
Wie zur Antwort auf meine Frage klingelte das Telefon, und Lindsey schnappte sich das Gerät, das irgendjemand, der es zuletzt benutzt hatte, auf der Treppe liegen gelassen hatte. »Hallo«, sagte Lindsey leise. Natürlich, der Augenblick verlangte eigentlich, dass der Anrufer Seward war oder die Polizei oder vielleicht sogar Jack, der uns sagen wollte, wo er war. Aber das hier war das wirkliche Leben, und der größte Unterschied zwischen dem Kino und dem wirklichen Leben ist vielleicht der, dass das wirkliche Leben sich selten um die Dramaturgie einer Geschichte schert.
Lindseys Gesicht wurde auf einmal zu einer unergründlichen Maske, ihre Miene änderte sich nicht wirklich, sondern fror eher fest, ein feines Zusammenziehen mikroskopisch kleiner Gesichtsmuskeln, fast unmerklich, außer für jemanden, der sie sehr genaukannte. Auch wenn es zunächst ein Rätsel blieb, wer am Telefon war, war uns allen doch klar, dass der Anruf nicht das Geringste mit unserer gegenwärtigen Unterhaltung zu tun hatte. Und mir war ebenso deutlich klar, dass Lindsey von dem Anruf verunsichert war. »Hi«, sagte sie mit tonloser Stimme. »Wie geht’s? … Äh … Ach ja, hat er das? … Äh, nein, alles in Ordnung, ihm geht’s gut … ja.«
Dann sah sie zu mir hoch, und auf einmal lief es mir eiskalt über den Rücken, nur ein winziges entnervtes
Au weia!
, bevor sie mir das Telefon hinhielt und sagte: »Es ist für dich.«
»Wer ist es?«, murmelte ich, während ich ihr das Telefon abnahm. »Hallo?«
»Ben?« Es war Sarah. Lindsey sah mich einen Augenblick lang an und ging dann in die Küche.
»Hi«, sagte ich.
»Wer ist es?«, fragte Chuck gebannt.
Ich legte eine Hand über die Sprechmuschel und sagte ihm, wer es war. Während er und Alison verwirrte Blicke tauschten, sagte Sarah: »Ich hab mir Sorgen um dich gemacht.«
»Weshalb?«
»Du hast mich angerufen, erinnerst du dich? Aus dem Krankenhaus?«
»Ach ja. Woher wusstest du denn, wo du mich erreichen kannst?«
»Du hast doch gesagt, du bist in den Bergen. Und das war der einzige Ort, an dem du sein könntest, der mir eingefallen ist. Ich hatte die Nummer noch in meinem Adressbuch.«
»Oh. Ich hätte dich nicht anrufen sollen«, sagte ich. »Ich stand unter starkem Medikamenteneinfluss.« Chuck und Alison tauschten erneut Blicke und gingen dann in die Küche, um mir etwas Privatsphäre zu lassen.
»Ich hab mir Sorgen gemacht«, wiederholte Sarah leise.
»Ja, na ja, es geht mir gut«, beeilte ich mich zu sagen. Ein Telefongesprächmit ihr war wirklich das Letzte, was ich im Augenblick brauchte.
»Na schön«, sagte sie gereizt, und ich wusste, dass ich ihre Gefühle verletzt hatte.
»Hör zu, Sarah«, begann ich und kam mir schäbig dabei vor. »Ich hasse es über alles, unhöflich zu sein, aber ich kann das Telefon im Augenblick nicht belegen …«
»Ja«, sagte sie. Ihr Tonfall war jetzt eisig. »Ich wollte mit Sicherheit nicht bei irgendetwas stören.«
Ich entschied, dass eine Reaktion auf die Anspielung, die sie hatte durchblicken lassen, die Diskussion nur noch in die Länge ziehen würde. »Ich weiß«, sagte ich.
»Na, dann tu mir einen Gefallen. Wenn du es dir je wieder überlegen solltest, mich mit einem solchen Anruf zu erfreuen, tu’s nicht.«
»Abgemacht«, sagte ich. Ich konnte gar nicht glauben, dass ich sie überhaupt angerufen hatte. Mein Urteilsvermögen war noch nie besonders gut gewesen, aber das hier grenzte schon an Selbstaufopferung. »Ich muss ganz schön zugedröhnt gewesen sein«, murmelte ich.
»Wie bitte?«
»Schon gut«, sagte ich und legte auf. Nur mein entkräfteter Zustand hielt mich davon ab, das Telefon quer durchs Zimmer zu schleudern. Es gab so vieles, was mich an diesem Anruf nervte, dass ich gar nicht wusste, wo ich anfangen sollte. Ich wollte Sarah gegenüber nicht grausam sein, und ich wollte auch Lindsey nicht verletzen, und offenbar war mir beides auf einmal gelungen, indem ich einen idiotischen, sentimentalen Anruf von meinem Krankenhausbett aus getätigt hatte. Ohne jede Vorwarnung wurde mein Blick auf einmal verschwommen, und ich spürte, wie mir schwindlig wurde. Ich lehnte mich auf der Couch nach hinten, die Augen auf Halbmast, und spürte, wie sich das Zimmer zu drehen begann. DieWirkung meiner letzten Kodeindosis setzte ein. Ich war geschieden, und das war schlimm, nicht weil ich noch immer mit Sarah verheiratet sein wollte, sondern weil es das erste konkrete Anzeichen war, dass allmählich
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