Zeit für Plan B
»Ich weiß nur, dass ich inzwischen eigentlich irgendwo anders sein sollte. Und vermutlich dachte ich, wenn ich ihn hierherbekommen könnte, weit weg von all dem Wahnsinn in seinem Leben, dann würden wir vielleicht eine Chance haben. Es war dumm und egoistisch, aber ich hab’s eben getan.« Sie wandte sich zu uns um, mit gesenktem Blick. »Es ist geistesgestört, wirklich. Ich bin wie eine von diesen Psychopathinnen, wie Kathy Bates in
Misery
oderso ähnlich. Ich habe Jack entführt, damit er mich liebt. Ich habe euch alle unter dem Vorwand hierhergebracht, dass wir ihn vor sich selbst retten müssten, während ich dabei ebenso sehr an mich wie an ihn dachte. Und wenn er jetzt verletzt oder krank oder etwas noch Schlimmeres ist, dann ist es meine Schuld. Weil ich dumm genug war zu glauben, ich könnte ihn verändern, könnte aus ihm das machen, was ich haben wollte, damit mein Leben irgendwann an dem Punkt ankommen würde, an dem es inzwischen eigentlich sein sollte.«
Wir starrten sie alle an, völlig verblüfft von ihren Worten. Ich hatte schon immer gewusst, dass Alison hoffnungslos verknallt in Jack war, aber es war mir nie in den Sinn gekommen, dass sie vielleicht dieselbe Mischung aus Losgelöstheit und Leere bedrohlich näherrücken sah, die ich selbst durchlebt hatte. Das Gefühl, dass die Zeit nicht mehr joggte, sondern sprintete, und dass wir alle nicht einmal am Rennen teilnahmen. Ich empfand Mitleid mit ihr, auch wenn mein kleinliches, erbärmliches Elend sich rückwirkend vielleicht über Alisons Gesellschaft freute. Bis man selbst den Weg aus dem Wald gefunden hat, ist es beruhigend, anderen Leuten zu begegnen, die ebenfalls in ihm verloren sind.
»Es ist nicht geistesgestört«, sagte Lindsey. »Wir machen alle dieselben Dinge durch. Wenn man jünger ist, geht man einfach wie selbstverständlich davon aus, dass sich bestimmte Dinge einfach von selbst ergeben. Beziehungen, Familie, Karriere, das alles. Sie kommen vielleicht nicht genau in der Form, in der man sie sich vorgestellt hat, aber irgendwie kommen sie eben doch.« Sie lächelte wehmütig. »Man stellt sich bloß nie vor, dass sie vielleicht überhaupt nicht kommen könnten. Und dann wird man auf einmal dreißig und … Scheiße! Auf einmal wird einem bewusst, dass sie vielleicht doch nicht unbedingt kommen, und man kriegt Panik. Oder zumindest hab ich sie gekriegt.«
»Es ist schon komisch«, sagte ich. »Ich weiß, ich war depressiv,fühlte mich, als sei mein Leben aus dem Ruder geraten, aber ich war absolut überzeugt, dass ihr alle glücklich mit euerm Leben seid und ich der einzige Verlierer bin. Und irgendwie ist es tröstlich, festzustellen, dass bei euch auch alles in die Binsen gegangen ist.«
»Es freut mich wirklich, dass diese Tragikomödie, die mein Leben darstellt, eine Quelle des Trostes für dich ist«, erwiderte Alison mit einem verschmitzten Grinsen, und man konnte spüren, wie sich der Druck um uns herum allmählich löste.
»Und glaub bloß nicht, dass ich das nicht zu schätzen weiß«, sagte ich.
»Entschuldigt mich«, sagte Chuck, der nun wieder ganz auf den Felsen zurückkam. »Aber wird es hier irgendwann eine Pinkelpause geben? Ich meine, ich habe an all dieser gegenseitigen Anteilnahme und Selbstbetrachtung ebenso viel Vergnügen wie jeder andere wimmernde, jämmerliche Loser, aber wirklich. Es gibt Grenzen.«
»Chuck«, sagte Alison, während sie geknickt den Kopf schüttelte. »Es tut mir so leid, was ich vorhin gesagt habe. Bitte verzeih mir, ich war völlig daneben.«
Chuck betrachtete sie einen Augenblick lang und ließ dann ein hämisches Grinsen aufblitzen. »Du warst nicht daneben«, sagte er. »Das hier ist daneben.« Er trat einen Schritt vor und schubste sie, ohne zu zögern, in den See.
»Chuck!«, brüllten Lindsey und ich gleichzeitig.
Alison tauchte prustend auf, und ich stellte erleichtert fest, dass sie dabei auch lachte.
»Das musste jetzt einfach sein«, rief Chuck ihr lächelnd zu. »Nur eine Kleinigkeit, um die Spannung zu lockern.«
»Die Spannung war bereits gelockert«, sagte Lindsey, die immer noch ungläubig auf Alison hinunterstarrte, die inzwischen in einem kleinen Kreis auf der Seite schwamm, noch immer lachend.
»Nerv mich bitte nicht mit Details«, sagte Chuck und sprang mit einem Satz vom Felsen, so dass er platschend neben Alison imWasser landete. »Hey«, rief er zu uns hoch. »Das Wasser ist richtig warm. Ihr solltet auch reinkommen.«
Ich sah Lindsey an, die
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