Zeit für Plan B
Stapel mit Papier und Pappordnern. Das Zimmer besaß keine Fenster. Die vierte Wand war fast ausschließlich Familienfotos gewidmet. Alison und ihre Schwestern in unterschiedlichen Phasen ihrer Kindheit, stets mit frisch gewaschenem Haar und sonnengebräunt, als würden die Schollings nur im Sommer fotografiert. Unter diesen Fotos stand eine Schlafcouch, die zu einem breiten Doppelbett ausgeklappt war. Links des Sofas befand sich eine Tür, die in ein kleines Badezimmer führte, ebenfalls fensterlos. Wir legten Jack aufs Bett, zogen ihm die Schuhe aus und deckten ihn mit der blauen Steppdecke zu, die zusammengefaltet auf dem Boden lag.
»Er wird ganz schön unglücklich aus der Wäsche schauen, wenn er aufwacht«, bemerkte Chuck. Seine Nase war inzwischen ein unförmiger Klumpen, mit einem hässlichen, dunkelblauen Fleck, der sich von der Stirn über den Nasenrücken nach unten zog. Es musste höllisch wehtun.
»Damit befassen wir uns, wenn es so weit ist«, sagte Alison. Sie schob uns aus dem Zimmer und entnahm der obersten Schreibtischschublade einen dieser altmodischen eisernen Schlüssel, diein große Schlüssellöcher passen. Sie machte die Tür zu, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn zweimal scharf nach links. Ich überprüfte die Tür, indem ich am Türknauf drehte und mit der Schulter dagegendrückte. Die Tür war aus kräftigem Holz, vielleicht Pappel oder Ahorn, und ging nach innen auf, so dass ich mir ziemlich sicher war, dass Jack sie nicht aufbrechen konnte.
Alison legte den Schlüssel oben auf den Türrahmen, und wir gingen in die Küche hinunter, wo Lindsey bereits den Kühlschrank durchstöberte. »Ist sonst noch irgendjemand am Verhungern?«, fragte sie, wobei ihre Stimme aus dem Kühlschrank seltsam widerhallte.
Eine halbe Stunde später hatten wir uns ein kleines Festmahl zubereitet, bestehend aus Pasta in Marinarasauce, Knoblauchbrot, Käseomelett, Frühlingsrollen und einem großen bunten Salat. Es hatte etwas Tröstliches, wie wir vier eine üppige Mahlzeit zubereiteten und uns gemeinsam zu Tisch setzten. Es verlieh dem, was wir hier eigentlich taten, eine gewisse Gültigkeit, mischte der ganzen Angelegenheit ein Gefühl von Normalität bei.
»Ich hab irgendwie das Gefühl, jemand sollte ein Tischgebet oder etwas in der Art sprechen«, sagte ich.
»Ich weiß, was du meinst«, sagte Alison, während sie ihre Spaghetti mit Löffel und Gabel aufdrehte. »Es kommt einem vor wie Thanksgiving.«
»Na ja, ich bin auch wirklich dankbar«, sagte Lindsey. »Ich bin dankbar, dass wir das über die Bühne gebracht haben, ohne dass irgendjemand verhaftet oder verletzt wurde.«
»Wie bitte?«, protestierte Chuck, den Mund voller Frühlingsrolle.
»Ach so, richtig«, sagte Lindsey. »Ich bin dankbar, dass nur Chuck verletzt wurde.«
»Weißt du, was du mich kannst?«, murmelte Chuck, während er nach einem Rolling Rock griff und sich die Flasche gegen die Nase drückte.
»Wisst ihr«, sagte ich. »Es kommt mir vor, als ob es eine Ewigkeit her ist, seit wir alle das letzte Mal einfach so zusammengesessen haben.«
»Was redest du denn?«, sagte Chuck. »Wir gehen doch ständig zusammen aus.«
»Dann ist es aber anders«, sagte ich. »Meistens treffen wir uns überstürzt, und immer kommt irgendjemand zu spät oder muss früher los.«
»Oder schlägt die Kellner k. o.«, warf Alison sarkastisch ein.
»Deswegen müssen wir auch immer essen gehen«, fuhr ich fort. »Wenn wir die Zeit damit verbringen würden, das Essen zu kochen, dann wäre die Hälfte von uns schon wieder gegangen, bevor es fertig ist. Das hier kommt mir irgendwie, ich weiß nicht, langsamer vor. Persönlicher. Entspannter.«
»Du meinst, es kommt dir vor wie auf dem College«, sagte Lindsey und lächelte mir zu. »Wir alle beisammen, und kein Ende in Sicht.«
»Etwas in der Richtung«, sagte ich und spießte eine Frühlingsrolle mit meiner Gabel auf.
»Du warst schon immer der Sentimentale von uns, Ben«, sagte Chuck.
»Wir sind alle sentimental«, sagte Alison. »Ben spricht es bloß laut aus.« Sie warf mir ein anerkennendes Lächeln zu. Alison war, seit wir die Stadt verlassen hatten, ohne Unterbrechung in Hochstimmung gewesen. Es war nicht zuletzt diese völlige Hilflosigkeit gewesen, die sie so verzweifeln ließ. Nachdem sie sich monatelang ganz für sich allein wegen Jacks Selbstzerstörung gequält hatte, unternahm sie nun endlich etwas dagegen, und sie war nicht länger allein.
»Na ja«, sagte Chuck,
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