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Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Titel: Zeit, gehört zu werden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Knox
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sage, hatte alle Reservierungen für uns vorgenommen und uns angewiesen, einen Bus zu unserem Hotel zu nehmen. Sie hat schon immer in Deutschland gelebt und kennt sich in ganz Europa aus. Doch ich gehe gern zu Fuß, und es kam mir albern vor, einen Bus zu nehmen. Im Übrigen hatten wir keine Ahnung, welchen, und mein Italienisch war nicht gut genug, um zu fragen oder die Antwort zu verstehen. »Komm, wir laufen«, sagte ich zu Deanna. »Dann finden wir uns hier gleich viel besser zurecht.«
    Das war mein zweiter Fehler in zwölf Stunden.
    Das Stadtzentrum von Perugia liegt auf einem steilen Hügel, an dessen Fuß sich der Bahnhof befindet. Nach dem Anstieg über die Treppe vom Bahnsteig zum Bahnhof waren wir schon völlig außer Atem.
    Ich ging davon aus, dass das Hotel nicht weit entfernt war, und als wir an einem Kiosk vorbeikamen, kaufte ich einen Stadtplan. Ich fand unser Hotel am äußersten Rand der Karte. Diese Entfernung hielt ich für machbar, obwohl wir in der spätsommerlichen Hitze Rucksäcke trugen, die mit Kleidung und Büchern gefüllt waren.
    Deanna und ich überquerten die Schienen auf einer Bockbrücke, dann führte ich meine Schwester eine steile, gewundene Straße hinauf. Unterwegs bestaunten wir Zypressen, Olivenhaine, Kirchtürme und Ziegelsteinhäuser. Ich atmete die Urtümlichkeit der Stadt ein. Schon hatte ich das Gefühl, als würde mir die Aussicht gehören. Bald wird mir das hier so vertraut sein wie die Space Needle in Seattle, dachte ich.
    Nachdem wir uns anderthalb Stunden abgeplagt hatten, hörte der Bürgersteig unvermittelt auf. Das Gelände wurde noch hügeliger, und als wir an die Auffahrt zu einer Schnellstraße kamen, blieb uns nichts anderes übrig, als daran entlangzulaufen. Hohes, trockenes Gras zerkratzte uns die Beine, und im Nu waren wir von Mückenstichen übersät. Die Strecke erwies sich als mindestens doppelt so lang und sehr viel holpriger, als ich erwartet hatte. Die Sonne stand hoch am Himmel.
    Verschwitzt, elend und den Tränen nah sagte Deanna schließlich: »Amanda, das kann nicht der richtige Weg sein.« Sie legte sich auf ihren überladenen Rucksack.
    »Du siehst aus wie eine Schildkröte, die auf ihrem Panzer liegt«, entgegnete ich in dem Versuch, sie aufzuheitern.
    »Ich kann nicht mehr gehen«, erwiderte sie. »Was sollen wir machen?«
    Noch immer war ich mir ziemlich sicher, die richtige Richtung eingeschlagen zu haben. Ich setzte mich neben Deanna und deutete auf die Karte: »Hier sind wir. Oben am Hang wird es leichter. Dann suche ich jemanden, der uns den Weg zeigt.«
    Doch bevor wir oben angelangt waren, hielt ein unscheinbarer Wagen auf dem Seitenstreifen an. Der Fahrer war vielleicht ein paar Jahre jünger als mein Vater. Ich hatte keine Ahnung, was er fragte oder sagte, aber bestimmt sah er uns an, dass wir verirrte Amerikanerinnen waren. Bei den Versuchen, uns verständlich zu machen, führten wir am Straßenrand förmlich Scharaden auf. Doch zwischen seinem spärlichen Englisch und meinem mickrigen Italienisch fanden wir zwei Wörter, die wir gemeinsam hatten: »Holiday Inn«. Er deutete auf seinen Wagen, fuhr mit dem Finger über die gesamte Länge unserer Karte und bot uns eine Mitfahrgelegenheit an.
    Ich bin von Natur aus vertrauensselig – meinem Vater zufolge zu sehr – und nahm einfach an, dass unser Fahrer ein anständiger Kerl war. Mal ehrlich, was blieb uns anderes übrig? Schließlich hätten wir nicht einfach kehrtmachen können. Ich war so erleichtert, jemanden zu finden, der wusste, wie er uns zu unserem Hotel bringen konnte, dass ich mit Freuden ein Risiko einging.
    »Grazie«, sagte ich.
    Ich setzte mich auf den Beifahrersitz und übernahm das Reden. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass er etwas Verrücktes tun würde, wäre ich der Puffer zwischen ihm und Deanna. Für mich als Älteste war das die automatische Reaktion auf eine mögliche brenzlige Situation, in die eine Schwester geraten könnte. Außerdem fühlte ich mich sicherer, wenn ich mir einbildete, alles unter Kontrolle zu haben. Rückblickend sehe ich ein, dass ich lächerlich viel ungerechtfertigtes Selbstvertrauen hatte. Warum war ich davon ausgegangen, den Weg zu einem Hotel zu kennen – in einem Land, das ich vor Jahren mal besucht hatte, in einer mir völlig unbekannten Stadt? Ich hatte im Leben noch keine körperliche Auseinandersetzung gehabt. Was hätte ich tun können, um Deanna zu beschützen, wenn etwas schiefging?
    Zum Glück hatte ich unseren Fahrer

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