Zeit, gehört zu werden (German Edition)
besser eingeschätzt als die vor uns liegende Strecke. Nachdem er von der Schnellstraße abgefahren war, bog er um ein paar scharfe Kurven – Straßenschilder gab es nicht –, während er sich mir zuwandte, um zu plaudern. Ich entnahm seinen Worten, dass er entweder eine Disco besaß oder uns zum Tanzen einlud. Als er fragte: »Disco stasera?« – »Disco heute Abend?« –, hatte ich verstanden. Zehn ermüdende Minuten lang lächelte ich und sagte: »No.« Als er uns an unserem Hotel absetzte, gab er sich fröhlich nach dem Motto, man kann es einem Mann schließlich nicht verübeln, wenn er es versucht.
Bis wir eingecheckt und unsere Rucksäcke im Zimmer abgestellt hatten, waren uns vier wichtige Stunden für die Wohnungssuche verlorengegangen. Es hätte viel schlimmer kommen können. Da wir es leid waren, zu laufen, nahmen wir einen Bus zurück in die Stadt. Dort kaufte ich ein billiges Prepaid-Handy. Deanna und ich setzten uns in ein Café in der Hauptgeschäftsstraße und versuchten fünf Minuten lang, bei dem gutmütigen barista einen Mokka zu bestellen (espresso + latte + cioccolato!). Danach durchsuchte ich Perugias Kleinanzeigen nach einer Mietwohnung, aber ohne Erfolg. Ich wurde immer nervöser. Diese Reise hatte ungünstig angefangen. Ich war nicht abergläubisch, aber ich hoffte, dass das kein Zeichen dafür war, wie mein Jahr in Italien verlaufen würde.
Deanna und ich gingen eine steile Pflasterstraße zur Universität hinunter und betraten das reich verzierte Verwaltungsgebäude. Wenn ich schon keine Bleibe auftreiben konnte, dann sollte ich doch wenigstens herausfinden, wie man sich einschreibt. Mit den Dutzenden von Fahnen, die an Masten auf dem Balkon über dem Eingang wehten, wirkte der Bau wie eine UNO-Vertretung im Kleinformat. Die Flaggen zeigten an, aus wie vielen Ländern die Studenten an dieser Universität kamen. Als wir wieder gingen, sah ich eine dünne, braunhaarige Frau, die etwas älter aussah als ich. Sie trug superkurze Shorts zu einem gelben, ärmellosen Top und klebte gerade einen Zettel an ein Holzgitter, das mit allen möglichen Notizen übersät war. Sie sah aus wie eine Studentin, und ich erblickte eine Telefonnummer auf ihrem Zettel. Ich packte die Gelegenheit beim Schopf. »Hast du eine Wohnung zu vermieten?«, fragte ich versuchsweise auf Englisch. Sie antwortete – zum Glück auch auf Englisch –, dass sie und ihre beste Freundin zwei Zimmer in ihrer Wohnung untervermieten wollten. »Wie weit ist das von hier aus?«, fragte ich.
»Gleich hier, die Straße runter – zwei Sekunden«, antwortete sie. »Willst du es dir ansehen?« Ich konnte kaum glauben, dass eine wahrscheinliche Lösung für mein größtes Problem direkt vor mir stand.
Sie hieß Laura Mezzetti, und ich mochte sie auf Anhieb. Deanna und ich folgten Laura über den von Bäumen gesäumten Platz, vorbei an einer Reihe hoher Backsteinhäuser. Wir sprinteten förmlich von einer belebten Straße in eine noch belebtere, überquerten eine Kreuzung und gelangten an ein hohes Eisentor. Laura blieb stehen und öffnete es. Wir standen vor einer Auffahrt zu einer cremefarbenen Steinvilla mit einem Ziegeldach wie aus dem Märchen. Ich war sprachlos. Eine Villa mitten in der Innenstadt! Sie stand auf einem Hügel, der in einen reichlich verwilderten Garten hinunterführte.
»Das Obergeschoss gehört uns«, erklärte Laura. »Das Untergeschoss haben einige Jungs gemietet – Studenten.«
»Ist nicht wahr«, flüsterte ich Deanna zu. »Das ist fast schon zu perfekt.«
Laura und ihre Mitbewohnerin, Filomena Romanelli, führten uns durch die Wohnküche. Die Wohnung hatte vier Zimmer, zwei Bäder und eine Terrasse. Eins der zu vermietenden Zimmer ging zur Auffahrt hinaus und hatte nur begrenzte Aussicht auf das Tal. Das Zimmer daneben war etwas größer und hatte ein Panoramafenster mit Blick auf die Landschaft. Beide kosteten dasselbe, aber mir gefiel der kleinere Raum besser. Der hatte alles, was ich mir erhofft hatte – ein Bett, einen Schreibtisch, einen Kleiderschrank – und war gemütlich. Die Miete – 300 Euro – schien hoch, aber es war in der Nähe der Universität und eine Villa . Das war es mir wert.
Außerdem schien das Leben in der Via della Pergola 7 leicht zu sein, wahrscheinlich weil Laura und Filomena Unbeschwertheit ausstrahlten. »Wir gehen zur Arbeit, kommen nach Hause, schauen uns Fernsehserien an, kochen was und hängen mit Freunden ab«, sagte Laura.
Die beiden waren Ende zwanzig und
Weitere Kostenlose Bücher