Zeit im Wind
gleichzeitig auch ein siebzehnjähriges Mädchen mit den gleichen Hoffnungen und Zweifeln, die auch mich bewegten. Zumindest nahm ich das an, bis sie mir endlich ihr Geheimnis verriet.
Ich werde den Tag nie vergessen, denn sie war ganz still gewesen. Die ganze Zeit hatte ich das komische Gefühl, daß ihr etwas Wichtiges auf der Seele lag.
Am Samstag, bevor die Schule wieder anfing, brachte ich sie von Cecil's Diner nach Hause. Es ging ein böiger, schneidender Wind, der seit dem Morgen davor aus Nordost wehte. Wir mußten uns eng umschlungen halten, um warm zu bleiben. Jamie hatte sich bei mir untergehakt, während wir langsam, noch langsamer als sonst, gingen. Ich merkte, daß ihr nicht gut war. Sie hatte wegen des Wetters nicht mit mir kommen wollen, aber ich hatte sie eindringlich gebeten, weil ich nämlich beschlossen hatte - daran erinnere ich mich -, daß meine Freunde von uns erfahren sollten. Bedauerlicherweise war jedoch keiner von ihnen bei Cecil's. Wie in vielen Gemeinden an der Küste war das Strandleben im Winter sehr ruhig.
Jamie sprach nicht. Ich wußte, daß sie darüber nachdachte, wie sie mir das, was ihr auf dem Herzen lag, beibringen sollte. Ihre Gesprächseröffnung, als sie dann kam, war überraschend.
»Die anderen denken, ich bin komisch, stimmt's?« sagte sie schließlich und durchbrach das Schweigen.
»Welche anderen?« fragte ich, obwohl ich die Antwort wußte.
»Die anderen in der Schule.«
»Das stimmt nicht«, log ich.
Ich küßte sie auf die Wange und drückte ihren Arm etwas fester an mich. Als sie zusammenzuckte, merkte ich, daß ich ihr weh getan hatte.
»Alles in Ordnung?« fragte ich besorgt.
»Alles in Ordnung«, sagte sie, faßte sich und griff das Thema wieder auf. »Kannst du mir einen Gefallen tun?«
»Was immer du willst«, erwiderte ich.
»Kannst du mir versprechen, von jetzt ab immer die Wahrheit zu sagen? Ich meine, immer?«
»Na klar«, sagte ich.
Sie hielt mich plötzlich fest und sah mich an. »Lügst du jetzt im Moment?«
»Nein«, sagte ich abwehrend. Ich hatte keine Ahnung, wohin das Gespräch führen würde. »Ich verspreche, daß ich von jetzt an immer die Wahrheit sagen werde.«
Ich wußte in dem Moment schon, daß ich es später bereuen würde.
Wir gingen weiter. Als ich ihre Hand in meiner betrachtete, fiel mir ein großer blauer Fleck unterhalb ihres Ringfingers auf. Ich hatte keine Ahnung, woher der kam, denn tags zuvor war er nicht dagewesen. Einen Moment dachte ich, ich hätte ihn ihr zugefügt, aber dann wurde mir bewußt, daß ich sie da gar nicht berührt hatte.
»Die anderen finden mich komisch, stimmt's?« fing sie wieder an.
Mein Atem ging hastig.
»Ja«, antwortete ich schließlich. Es tat mir weh, das auszusprechen.
»Warum?«
Sie sah mich fast verzagt an.
Ich dachte nach. »Aus verschiedenen Gründen«, sagte ich ausweichend und wollte es dabei belassen.
»Aber warum genau? Ist es wegen meines Vaters? Oder weil ich versuche, nett zu den Menschen zu sein?«
Ich wollte dieses Gespräch nicht führen.
»Wahrscheinlich«, war alles, was ich zustande brachte. Mir war ein wenig schwindlig.
Jamie schien enttäuscht, als wir schweigend weitergingen.
»Findest du mich auch komisch?« fragte sie mich.
So wie sie es sagte, tat es mir noch mehr weh, als ich mir vorgestellt hatte. Wir waren schon fast bei ihrem Haus angekommen, als ich stehenblieb und sie an mich zog. Ich küßte sie. Als wir voneinander abließen, senkte sie den Blick.
Ich legte ihr einen Finger unter das Kinn und hob ihren Kopf, so daß sie mich ansehen mußte. »Du bist ein wunderbarer Mensch, Jamie. Du bist schön, du bist freundlich, du bist zärtlich… du bist alles, was ich gern wäre. Wenn die anderen dich nicht mögen oder dich komisch finden, dann ist das ihr Problem.«
In dem grauen Dämmerlicht des kalten Wintertages konnte ich sehen, wie ihre Unterlippe zu zittern begann. Auch mir war jämmerlich zumute, und mein Herz klopfte laut. Ich sah ihr in die Augen und legte alle meine Gefühle in ein Lächeln. Ich wußte, daß die Worte sich ihren Weg bahnen würden.
»Ich liebe dich, Jamie«, sagte ich zu ihr. »Du bist das Beste, was mir je in meinem Leben passiert ist.«
Es war das erste Mal, daß ich diese Worte zu einem Menschen, der nicht zu meiner Familie gehörte, sagte. Ich hatte gedacht, es würde mir schwerfallen, aber es war ganz leicht. Nie war ich mir einer Sache sicherer gewesen.
Sobald ich die Worte ausgesprochen hatte, ließ Jamie den
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