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Zeit und Welt genug

Titel: Zeit und Welt genug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Kahn
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schloss sie ihr Ventil und steckte die Spritze ein.
    »Tut mit leid, Chef«, sagte sie zu dem bleichen Neuromann am Boden, riss das Skalpell aus seinem Mund und schob es in die Tasche. Dann trug sie seinen regungslosen Körper zur Abfalltonne, mied den Blick der weit aufgerissenen Augen und kippte den Mann hinunter. Unten spritzte Wasser auf.
    Sie räumte auf und säuberte sich, stieg in die Röhre, zog den Deckel über sich zu und kletterte die Sprossen hinunter.
    Sechzig Meter tiefer erreichte sie den Grund. Das Wasser war hier nur dreißig Zentimeter tief, floss aber sehr schnell, so dass sie kaum stehen konnte, ohne sich an der Wand festzuhalten. Langsam ging Jasmine in Stromrichtung weiter.
    Es war dunkel, aber nicht ganz lichtlos. Ungefähr alle fünfzig Meter hing eine trübe Glühbirne an der Decke und erhellte einige Meter Tunnel. Jasmine watete zum nächsten Licht und blieb stehen, um sich zurechtzufinden.
    Es war wie ein Irrgarten. Aus allen Richtungen kreuzten sich Tunnels, manche gerade, andere mit Biegungen; in den einen rann Wasser, andere waren trocken; in diese führten Röhren herab, fünf Meter breit oder auch so eng, dass man kaum hindurchkriechen konnte, einige düster wie schlechte Träume oder schwarz wie der Tod.
    In der Nähe der Glühbirne, unter der sie stand, führte ein Schacht schräg aufwärts. Neben der untersten Sprosse war eine Nummer ins Gestein geritzt: P 116. Sie zog kurz ihren Plan zu Rate, konnte aber unter diesen Bedingungen nicht finden, wo diese Stelle war. Sie rollte die Pläne wieder zusammen und ging in Stromrichtung weiter. Es gab Dutzende von Nebentunnels, Abzweigungen, Biegungen, und das Wasser schoss überall hinein. Jasmine folgte den größeren Rohren, dem tieferen Wasser. Sie stolperte einmal und stürzte hin – über einen der Neuromenschen, die sie umgebracht hatte. Das erstarrte Gesicht tauchte aus dem Wasser auf und glotzte sie an. Jasmine erwiderte den Blick wie gebannt. Sie blickte zu der Sprosse hinauf. P 116. Nach einer Stunde Gehen war sie wieder am Ausgangspunkt angelangt.
    Sie widerstand der Panik. Erneut ging sie dem Strom nach.
    Sie wählte diesmal andere Abzweigungen oder glaubte es jedenfalls zu tun. Links, wo sie vorher rechts gegangen war. Hinauf statt hinunter.
    Nach einer Zeit, die sie nicht messen konnte, erreichte sie im Labyrinth eine ansteigende Biegung, wo das Wasser herabfloss und eine andere Richtung nahm. Sie stieg die trockene Röhre ein Stück hinauf, bis an einem senkrechten Schacht Schluss war. Die Sackgasse schimmerte im orangeroten Licht einer Kohlefadenlampe. Auf dem Gestein war neben dem Zugang zum Schacht aufgemalt: HEART STREET. Jasmine rollte ihre Hosenbeine herunter, die sie aufgekrempelt hatte, und stieg die Sprossen hinauf.
    Sie erreichte das Ende nach fünfzig Sprossen, drückte den Deckel über sich vorsichtig auf und schaute sich um. Eine verlassene Straßenecke. Sie schwang sich hinaus.
    Es schien später Nachmittag zu sein. Der Behälter, aus dem sie gestiegen war, diente als öffentliche Abfalltonne Ecke HEART STREET und 7. AVENUE. Ein Vampir bog um die Ecke. Mit mehreren Menschen an einer Leine ging er an Jasmine vorbei und betrat ein Haus. Zwei Neuromenschen kamen aus einer Kneipe und lachten miteinander.
    Jasmine lachte ebenfalls.
    Sie ging die Heart Street hinunter zur First Avenue, auf der viele Neuromenschen und Vampire zu sehen waren, dann die Avenue hinauf, fort von der Burg, bis sie die Außenmauer erreichte. Sie verließ die Stadt durch das Haupttor. Eine Meile später fand sie Lon im Schatten einer Ulme. Er las ein Buch.
    »Ganz der Müßiggänger«, meinte sie.
    »Ich hoffe, dein Talent zur Spionin hat heute Früchte getragen.« Er lächelte sie an und klappte das Exemplar von ›Die Neue Welt‹ zu.
    »Ganz wie früher«, sagte sie strahlend. Ihr Lächeln wurde dünn. »Wir haben eine lange Nacht vor uns.«
    Er gab ihr das Buch, legte den Arm um ihre Schulter und ging mit ihr zu dem fernen Hain, wo ihre Freunde warteten.
    »Das kann man wohl sagen«, bestätigte er. »Das kann man wohl sagen.«

 
Kapitel 15
     
    Worin die Jagd nach den vermissten
    Kindern ihr Ende findet
     
    »… und nicht zuletzt«, sagte Jasmine abschließend, »gibt es ein elektrisch geladenes Drahtnetz mit Quadraten von sechzig Zentimetern Länge über der ganzen Stadt als Schutz gegen Angriffe oder Flucht.« Die anderen hörten aufmerksam zu. Der Mond ging auf. »Offen gesagt, ich glaube, zu unseren Gunsten spricht nur, dass sie

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