Zeit und Welt genug
Arbeitsraum. Die Tür stand dort offen. Ein Angestellter am Schreibtisch hob den Kopf.
»Kann ich behilflich sein?« fragte er.
Sie antwortete ebenso sachlich und gleichgültig.
»Ich möchte den Vorgesetzten sprechen.«
Das brachte ihn aus dem Gleichgewicht.
»Ich – das heißt, er ist gerade beim Essen. Dienstlich unterwegs, meine ich. Kommt erst morgen wieder. Vielleicht kann ich –«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich muss die Kanalisations-Netzpläne einsehen. Für die ganze Stadt. In Dragos Labor hat es einen Unfall gegeben.« Sie ließ einen Unterton furchtsamer Sorge anklingen.
»Einen Unfall?«
»Es ist etwas ausgelaufen«, sagte sie. »Durch das Rohr. Nichts … Ernstes. Aber wir müssen wissen, wohin die Strömung von Dragos Labor aus geht. Und zwar rasch.«
Der Angestellte stand auf.
»Aber sollten wir nicht Mitteilung machen an …«
»Wir wünschen keine Panik, verstanden? Wenn es schnell und diskret geht –«
Er zögerte.
»Ja, ja, verstehe«, sagte er schließlich. »Ich kann die Pläne vorlegen, ich habe sie hier …« Er ging in den Nebenraum. Jasmine folgte ihm. Er zog mehrere große Papierrollen aus einem offenen Safe und breitete sie auf dem Schreibtisch aus.
Sie blickte über seine Schulter und überflog die Pläne kurz. Es sah noch besser aus, als sie gehofft hatte.
»Also«, sagte der Angestellte, »dann brauche ich Ihre Zimmernummer, Arbeitsnummer und Stadtnummer …«
Er blickte auf den Schreibtisch hinunter. Jasmine riss das Ventil an seinem Hinterkopf auf, zog eine große Spritze aus der Tasche und jagte rasch fünfzig Kubikzentimeter Luft in das Loch. Er brach sofort tot zusammen.
Sie hob ihn hoch und warf ihn in die Abfallröhre. Nach einigen Sekunden Stille kam ein lautes Klatschen. Sie rollte die Pläne zusammen und steckte sie in den Uniformrock, schloss den Tresor, kritzelte einen Zettel als Krankmeldung und legte ihn auf den Schreibtisch des Chefs. In diesem Augenblick kam der Chef herein.
Er begriff sofort, dass etwas nicht stimmte.
»Wer bist du? Wo ist Trout?«
Jasmine reagierte kühl.
»Er ist krank geworden, Sir. Er hat mich gebeten –«
»Was machst du in meinem Büro? Was hast du da?«
»Nur einen Zettel von Trout, Sir.«
»Gib her. Teufel, das ist nicht Trouts Schrift!« Er griff nach dem Telefon. »Bitte, den Sicherheitsdienst …«
Jasmine riss das Kabel aus der Wand und stürzte sich auf ihn. Sie rollten auf dem Boden hin und her. Keiner gewann die Oberhand. Sie rissen um, was im Weg stand. Sie griff an seinen Hinterkopf, aber er befreite sich rasch, da zwei ihrer Finger seit dem Duell in Ma’ Gas’ nur unvollkommen zupacken konnten. Plötzlich warf er sich herum, packte sie von hinten und presste sie auf den Boden. Sie konnte sich nicht befreien. Von Entsetzen gepackt, spürte sie, wie der Neuromann mit dem Mund ihren Hinterkopf berührte, mit den Zähnen ihr Ventil aufriss. Warme, dicke Flüssigkeit lief an ihrem Nacken herab.
Sie wand sich, bäumte sich auf, warf sich herum, bekam einen Arm frei, aber er hielt sie fest. Durch die Öffnung in ihrem Hinterkopf rann immer mehr Hämo-Öl heraus. Ihr Herz begann schneller zu schlagen.
Der Abteilungsleiter begann zu schreien.
»Wache! Hilfe!«
Als sie seinen offenen Mund sah, fiel ihr etwas ein. Mit dem freien Arm griff sie in ihre Tasche und zog eines der langstieligen Skalpelle heraus, die sie in Dragos Labor gefunden hatte.
Eine Stelle der Neuromensch-Anatomie war sehr verwundbar: der weiche Gaumen. Die Biegsamkeit des Kunststoffs dort, für Verdauung und Sprechen unbedingt notwendig, ließ keinen unangreifbaren Schutz zu. Überdies war er von der Stelle, wo Gehirn und Rückenmark zusammenhingen, nur einen Zentimeter entfernt.
Als der Mann den Mund wieder aufriss, um zu schreien, stieß Jasmine ihm die Klinge tief in die Kehle und durchtrennte sein Rückgrat.
Er stürzte gurgelnd nach hinten. Der Griff des Skalpells ragte aus seinem offenen Mund. Die Augen waren weit aufgerissen, die Nasenflügel gebläht. Er lag auf dem Rücken und konnte sich vom Hals abwärts nicht mehr bewegen.
Jasmine stand langsam auf und untersuchte sich nach Schäden. Nichts Ernstes, abgesehen von großer Schwäche. Sie sperrte die Eingangstür ab, drehte den gelähmten Neuromann herum, öffnete das Ventil an seinem Hinterkopf, setzte die Spritze an und zog fünfzig Kubikzentimeter von seinem Hämo-Öl auf. Sie füllte es in ihr Ventil und wiederholte den Vorgang, bis sie sich wieder kräftig fühlte, dann
Weitere Kostenlose Bücher