Zeit und Welt genug
neben einer siedenden Schwefelgrube, aus der es ätzend roch. Der Rand der Grube lief ungefähr eine Viertelstunde neben ihrem Weg her und reichte dann in den Urwald hinein. Im letzten Augenblick ließ sie, ohne dass Nancy es bemerkte, mit dem Schwur, nie mehr darüber nachzudenken, das tote Kind in den Schwefelsee, wo es rasch versank.
Ena, die hungrige Vampirin, hörte das Klatschen.
»Was war das?« fragte sie scharf und ging auf Rose zu.
»Ein Klotz am Weg«, sagte Rose müde. »Ich habe ihn mit dem Fuß hineingestoßen.«
Ena feixte sie höhnisch an.
»Du bist stark, wie?« Rose blieb stumm. Ena betastete Roses Hals. »Und ein guter, starker Puls. Ich mag Leute mit Feuer.« Sie streichelte Rose und betastete sie. »Ich könnte es dir leichter machen, Miststück«, zischte sie. Rose bezähmte ihre Furcht, so gut sie konnte. Ena entblößte ihre Fangzähne, fauchte, legte den Mund auf Roses Lippen, biss hinein, genoss den Tropfen Blut, der herauskam. »Ich könnte es dir auch schwerer machen.«
In einem besonders verfilzten Gewirr von Lianen und Wurzeln verfing Beauty sich mit dem Hinterbein, stolperte und stürzte.
Zuerst sagte er nichts und wollte aufstehen, ohne jemanden zu belästigen. Bis er um Hilfe rief, waren Jasmine und Josh schon sieben, acht Meter entfernt, so dass es wieder zehn Sekunden dauerte, bis sie zurückkamen. Da war er schon bis zum Gesäß im Schwimmsand versunken. Das Entsetzen hatte sein ganzes Gesicht verzerrt. Er versank rasch.
Josh streckte die Hand aus, aber Jasmine zog ihn zurück.
»Schneid lange Ranken ab«, sagte sie.
Im nächsten Augenblick hackten sie zehn Meter lange, dicke Lianen ab. Als sie fünf Stränge hatten, setzte Jasmine sich auf den Boden und flocht sie zusammen.
Beauty steckte schon bis zu seinem Menschenbauch im Sand.
»Beeilt euch, bitte«, sagte er ruhig. Er wusste, dass es jetzt mehr denn je darauf ankam, das Gleichgewicht zu halten, innerlich wie äußerlich. Jedes Ausschlagen oder Herumwerfen – jedes Ungleichgewicht – würde ihn nur noch schneller versinken lassen.
»Mein Gott, dafür haben wir keine Zeit!« fuhr Josh Jasmine an, packte eine der Ranken und warf sie Beauty zu.
Jasmine riss sie wütend zurück.
»Wie viel halten die Stängel aus, glaubst du?« zischte sie und flocht weiter. »Tausend Pfund? Du weißt, was Beauty in dem Treibsand wiegt.«
Josh wand sich vor Ohnmacht. Er fühlte sich am Ersticken, wenn er zusah, wie sein Freund versank, ohne dass er ihm helfen konnte, ohne dass er überhaupt wusste, wie er ihm helfen sollte.
Beautys Ohren zuckten. Er steckte bis zu den Brustwarzen im saugenden Schwimmsand.
Jasmine war mit dem Flechten fertig und knotete eine Schlinge in den dicken Strang. Beauty war bis zum Hals versunken, die Augen weit aufgerissen, die Arme über dem Kopf. Jasmine warf Beauty die Schlinge hin und schleuderte das andere Ende hoch um die Gabelung eines dicken Baums, die sie als Hebel benützte. Sie und Josh zogen am Seil.
Wie bei einer genau ausgeglichenen Kraftprobe gab zunächst keine Seite nach. Dort stand Beauty, das Kinn im Schlick, mit den ausgestreckten Händen die Schlinge umklammernd, hier die beiden am Seil. Langsam und zögernd kam der Zentaur herauf. Die Neurofrau und der Mensch setzten ihre letzten Kräfte ein, angespornt von jedem Zentimeter, den Beauty heraufkam.
Sie brauchten eine ganze Stunde.
Als Beauty endlich auf festem Boden stand, zitterten seine Beine. Er fiel hin. Die beiden anderen sanken vor Erschöpfung zusammen. Sie blieben dort liegen, wo sie hingefallen waren, ohne von der Welt etwas wahrzunehmen, die Arme umeinander geschlungen. Kurz bevor sie einschlief, hob Jasmine noch einmal den Kopf und blickte in Beautys Gesicht neben sich. Seine Augen waren offen. Sie tauschten einen langen Blick, der eine Umarmung war. Dann schlossen sie beide die Augen und schliefen.
Dicey trug nur ihr dünnes Baumwollhemd, als sie schwitzend und nass durch den dampfenden Regen ging. Neben ihr ging Bal. Ein Flügel war leicht geöffnet und schirmte sie vor den Blicken der anderen hinter ihnen ab. Sie blickte verzückt in sein Gesicht. Er sprach leise und leidenschaftlich.
›… So können die Sonne nicht still lassen stah’n,
doch zum Laufen sie jederzeit bringen.‹
Er verstummte. Sie starrte ihn unbeirrt an, wartete auf noch mehr Worte, Zauberworte, aber sie kamen nicht. Er blieb stumm. Sie spürte seine Macht, wenn er ihr diese Worte aus den Gedichtbüchern vorsprach, aber sie
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