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Zeit und Welt genug

Titel: Zeit und Welt genug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Kahn
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Blut mehr von diesen Gefangenen. Wir haben schon zu viele verloren. Ist das klar?«
    Ena nickte mürrisch. Uli lächelte vor sich hin. Bal trat wieder zu Dicey an der Spitze des Zuges.
    »Danke«, flüsterte Dicey. Sie sah ihn an, blickte aus den Tiefen ihrer Augen zu ihm auf, die schwarz waren vor Begierde, leuchtend vor Wissen.
    »Nein, du hast recht gehabt. Deine Freundin war wirklich bleich. Ena ist dumm.« Er atmete durch den Mund.
    Sie legte die rechte Hand auf seine muskulöse linke Brust, hob den Kopf und hielt ihm den blassen Hals hin.
    Ena schaute von weitem zu und wütete innerlich.
    »Da, schon wieder.« Josh blieb an einem Banyanbaum stehen und lauschte.
    Sie hörten es nun deutlich. Zwei Stimmen: verführerisch, lockend, flehend.
    »Ich habe … noch nie solchen Gesang gehört«, flüsterte Beauty. Er trat zwei Schritte vor.
    »Diese Richtung«, sagte Josh, ging an dem Zentauren vorbei und machte fünf Schritte.
    »Wartet«, sagte Jasmine. »Die Vampire sind in dieser Richtung zu finden.« Sie zeigte fort von dem Bach, den sie hinter sich gelassen hatten.
    Hypnotisierend, rätselhaft. Sinnlich. Bettelnd.
    »Wartet«, wiederholte Jasmine, aber sogar sie vergaß nun schon, was an der Richtung, die sie hatte einschlagen wollen, so wichtig war. Sie fragte sich statt dessen, was für ein Engel solch zwingende Musik hervorbrachte. Sie ging verzückt auf die Töne zu.

 
Kapitel 11
     
    Worin die Reisenden etwas
    Zeit verlieren
     
    S ie folgten dem Bach, bis er zum Fluss wurde. Die singenden Stimmen wurden lauter und im Dampf des Nachmittags wieder leise. Plötzlich gab es einen Knick im Flussbett. Das Wasser stürzte sechs, sieben Meter hinab. Die Jäger kletterten die Böschung hinunter.
    Hier war der Gesang noch stärker. Wimmernd, neckend. Die Gefährten sahen einander an. In rascher Folge spiegelten sich die unterschiedlichsten Empfindungen auf ihren Gesichtern: Angst, Erregung, Verwirrung, Verzweiflung, Besessenheit. Der Gesang schien aus dem Wasserfall zu stammen. Gleichzeitig traten die drei Freunde in den Fluss, tauchten durch den strömenden Wasserfall.
    Als sie auf der anderen Seite der Fälle herauskamen, standen sie in einem stillen grünen Teich. Genährt wurde er am dunkleren Ende durch einen kleinen stillen Bach, der sich in den Höhlen darunter verlor. Sie wateten durch das seichtere Wasser, das immer tiefer in die Höhlen hinabreichte. Hinauf, hinab, in Spiralen weiter. Bei jeder Biegung klang die Musik klarer, bis endlich eine neue Höhle sich auftat und Jasmine, Beauty und Josh in eine sonnige, grasbewachsene Lichtung entließ. Und dort, am Ufer des Kristallflusses, lagerten die drei lachenden Sirenen.
    Sie waren herrlich: zarte rosige Gesichter, biegsame Frauenkörper, üppig bedeckt mit zarten Daunen- und Taubenfedern in schillernden Farben überall, außer an den feinen Gesichtern, zarten Hälsen, marmorweißen Brüsten. Vogelfrauen, zarter als Schlaf.
    Die Sirenen erhoben sich. Sie sprachen eine fremdartige musikalische Sprache mit Stimmen wie von Harfen. Sie traten vor, nahmen die drei Freunde bei den Händen und führten sie eine leichte Steigung hinauf zu einer mohnüberwucherten Anhöhe, von der aus sie eine Stadt sahen, aus dem Urwald herausgehauen und noch von ihm durchwirkt. Üppiges Grün, lastend schwül; unfassbar.
    Die Gebäude fielen dem Auge als erstes auf – uralte Gebäude, Hunderte von Jahren alt, aus Ziegeln, Beton, Stahl, Glas, zerfallend durch Alter und Verwitterung. Jedes Bauwerk war teilweise oder ganz von Vegetation überwuchert; kriechender Efeu, verfilzte Iris. Die Fenster waren zumeist zerbrochen, das Eisen rostete. Aber trotz ihres Verfalls standen sie noch, manche höher, als die Vorstellung vertrug. Manche schienen sogar an den Wolken zu kratzen.
    Zwischen den Gebäuden waren unterbrochene, lückenhafte Betonwege zu sehen. Immer wieder gab es Gärten, undeutlich bezeichnet von der geometrischen Anordnung der Wege. Fabelhafte Gärten, als hätte man kleine Ausschnitte des Urwalds hierher gesetzt. Purpurn wuchernde Orchideen neben jenem Gebäude, üppig strotzende exotische Früchte hier: Melonen, Granatäpfel, Feigen, Passionsfrüchte. Eine Lawine aus Farn, ein Meer von Mohn, eine Wand aus zottigem Moos. Tausend Abarten von Palmen gediehen, manche höher als die höchsten Bauten. Und überall verstreut Blumen. Rosarot, blutrot, smaragdgrün, wehmutslila, Farben aus einem anderen Spektrum.
    Joshua fühlte sich in Hochstimmung, der Orientierung beraubt.

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