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Zeit und Welt genug

Titel: Zeit und Welt genug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Kahn
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griff hinter sich und grub die messerscharfen Krallen in sein Gesicht, durchbohrte seine Wange.
    Diceys Augen waren weit aufgerissen. Wer würde gewinnen? Sie drehte sich nach Uli um. »Helft ihm«, flehte sie.
    Am Rand des Lagers rang Rose mit ihren widersprüchlichen Gefühlen. Sollte sie davonstürzen? Nein, Uli war wachsam. Konnten sie entkommen, wenn Bal starb? Bal war in diesem Augenblick wohl ihr einziger Schutz, jedenfalls so lange, bis sie ihr Endziel erreichten. Aber wenn Ena gewann, würde es vielleicht einen Kampf mit Uli geben. Vielleicht …
    Ena riss ihren Flügel plötzlich los und flatterte in den Himmel hinauf. Bal hatte die Zähne immer noch in ihren Hals geschlagen. Als sie sich vorübergehend losreißen konnte, breitete er ebenfalls die Flügel aus und bekam sie erneut mit den Zähnen zu fassen, an ihrer Brust, über dem Herzen, während er ihre Arme festhielt. Aus ihren Halswunden strömte Blut.
    Mit zuckenden Schwingen wirbelten die beiden Vampire in Wipfelnähe durch die Luft. Ena konnte einen Arm losreißen und zerfetzte Bal an der Schulter einen Flügel. Sie packte seinen Kopf und schlug die Zähne in die Kopfhaut hinein. Sie stürzten ab und fielen in das Dickicht.
    Stille.
    Uli und die anderen liefen hin, um den tödlichen Kampf zu sehen. Die beiden Gestalten lagen regungslos im Unterholz, aneinander festgekrallt, blutend, die Schwingen verkrümmt, Zähne im Fleisch. Lastendes Schweigen.
    Langsam befreite Bal sich aus der Umklammerung und stand auf. Schulter, Flügel, Gesicht und Kopf waren blutüberströmt. Ena regte sich nicht mehr.
    Bal trat vor.
    »Bringt die Gefangenen zu Bett und übernehmt die erste Wache, Uli-Sire«, sagte er. »Ich ruhe mich aus und nehme vielleicht ein wenig Nahrung zu mir.«
    Diceys Pupillen weiteten sich, ihre Zähne klapperten aufeinander, ihr Hals prickelte. Sie begleitete Bal.
     
    Sie wanderten wie im Traum durch die uralten Straßen, im schimmernden Licht verschwommen, die Schatten wie Urwesen. Zuerst blieben sie beieinander, dann gingen sie getrennt durch Seitengassen, über Wege, die plötzlich aufhörten. Sie trafen sich manchmal wieder, begleiteten einander kurze Zeit, trennten sich erneut, um allein weiterzuwandern. Anfangs glaubten sie, hier die einzigen zu sein. Dann kamen sie dahinter, dass das nicht stimmte.
     
    Jasmine schlenderte einen Plattenweg zwischen zwei niedrigen Gebäuden entlang. Eines hatte kein Dach. Das Leuchten der Glühwürmchen lag wie ein Heiligenschein über dem Bauwerk. Das andere war aus Stahl und Glas. Über dem Schaufenster hing noch schief ein altes verwittertes Schild: LESTER’S WASCHSALON. Im Inneren standen Reihen von würfelförmigen rostigen Kästen. Dazwischen schwirrten Glühwürmchen umher.
    Jasmine schüttelte den Kopf. Eine untergegangene Zivilisation, dachte sie. Wie lange war es her, seitdem sie solche Gebäude gesehen hatte? Unter welch sonderbaren Umständen war das gewesen? Es konnten dreihundert oder dreitausend Jahre sein. Und wer vermochte die Umstände in Raum und Zeit zu beschreiben, in denen sie sich befunden hatte, als diese Bauten neu gewesen waren. Der Gedanke überwältigte sie. Sie weinte.
    Aber Neuromenschen können gar nicht weinen, dachte sie plötzlich. Sie erschrak. Es war, als sei ihr Selbstgefühl von innen her ausgehöhlt worden und löse sich auf. Nein, dachte sie und stürzte in das Gebäude ohne Dach.
    Sie stand in einem großen Raum, umgeben von Möbeln, die am Boden lagen. Zerfetzte Polsterung, verrostete Federn, verfaulende Tische, alles wimmelnd von Glühwürmchen. Und auf einem zerfetzten Kunstledersofa in der Ecke saß eine nackte Frau – nein, keine Frau – ein wunderschönes weibliches Wesen, beinahe menschlich, aber mit schwarzen Haaren, die weit über den Boden reichten, mit einem Gesicht, hohl von Lust, mit Augen, dunkel vor Wahnsinn: eine Mänade. An ihrer Brust trank ein kleiner diebischer Affe, aus dessen Kopf ein kleines Geweih spross.
    Jasmine trat entsetzt zurück. Die Szene packte sie im Innersten und nahm ihr den Atem. Die schattenhafte Sexualität, die zerborstenen Fenster, die tierhafte Hingabe, die menschliche Verzweiflung: eine Erinnerung ohne Substanz, durchtränkt von Empfindung; etwas zum Zaubern.
    Sie ging rückwärts zur Tür hinaus und begab sich zu einem flackernden Garten.
     
    Joshua sah eine der Sirenen in ein einstöckiges Ziegelhaus gehen. Als er herankam, entdeckte er, dass eine ganze Wand fehlte. Dahinter, im Inneren, standen endlose Regale mit

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