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Zeit und Welt genug

Titel: Zeit und Welt genug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Kahn
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Büchern. Er ging hinein.
    Langsam wanderte er an den Regalen vorbei und blickte auf die Titel: ›Robinson Crusoe‹, ›Der Hund von Baskerville‹, ›Mord im Dom‹, ›Spartakus‹. Sein Herz schwoll; so viele Seelen lebten hier im schimmernden Licht der Glühwürmchen und warteten darauf, dass sie vom Blick seiner Augen geweckt wurden. Mit zitternder Hand griff er nach ›Die verlorene Welt‹ und zog das Buch heraus. Dieser Band wartete gewiss seit Jahrhunderten auf Joshua, nur auf ihn, um ihm zu sagen, wer er war, was es mit diesem geheimnisvollen Ort auf sich hatte. Er klappte das Buch auf – und es zerfiel in seinen Händen zu Staub.
    Zu modrigem Staub. Zu nichts. Er starrte durch seine Finger auf die Seelen, die sich im Zeitlosen verloren. All die Jahre, all die Leben. Tot in seinen Händen. Das Gefühl des Verlusts war unermesslich.
    Er hielt sich an den Regalen fest, atmete tief ein, holte wieder einen Band herunter. Er zerfiel, bevor er ihn aufschlagen konnte. Er fuhr mit der Hand grob über eine ganze Reihe – kein Widerstand, nichts als verwehender, weicher Staub.
    Er wankte. Die Bedeutung dieses Vorgangs war unfassbar, welterschütternd: Die geschriebenen Wörter hatten ihre Macht verloren. Die Macht, zu erschaffen, die Macht, ewig zu bewahren – zu Asche zerfallen. War die Schreibkunst somit ein falscher Weg, waren die Schreiber falsche Propheten? Alles Lüge? Wenn er Diceys Namen und ihre Geschichte niederschrieb, würde sie nun doch nicht weiterleben? Würden die Wörter verdorren und verwehen wie ihr Körper, ihre Seele auf ewig verloren? Wenn dem so war, dann stellte die Schreibkunst nur eine armselige List dar. Sinnloses Gekritzel.
    Völlig zermürbt lehnte er sich an die Wand. Ein Stöhnen entrang sich ihm, seine Lippen waren verzerrt. Glühwürmchen schwebten wie Feuerfunken träge durch den Raum. Hinter Josh rührte sich etwas. Er fuhr herum. Es war die Sirene.
    Sie lachte. Ein Laut wie das Klingen von Rosenkristall-Glocken drang aus ihrem Mund. Ihre Lippen schlossen sich zu einem schwachen Lächeln. Es zeigte, dass sie die Qual des Verlusts verstand. Sie streckte die Arme aus, streichelte ihr nackten, ungefiederten Brüste, streckte die Arme wieder aus. Er sah sie grimmig an. »Was hat das für einen Zweck?« fragte er.
    Sie antwortete mit Gesang.
    »Nichts dauert«, stöhnte er, »wir entgleiten alle … in den Abgrund.«
    Sie flatterte und säuselte.
    »Selbst unsere Wörter …« Seine Stimme brach.
    Sie streichelte mit den weichen Federhänden über seine Wange und löschte seine Tränen.
    Josh spürte, wie der Drang seiner Trauer in den der Leidenschaft schmolz.
    »Aber du bist hier«, sagte er zu ihr. »Du lebst. Und ich auch.«
    Ihre Lippen öffneten sich, ihre Zunge wurde sichtbar. Er zog sie zu sich herab, die Hände in ihrer Federwärme.
     
    Beauty starrte lange Zeit, einen Augenblick der Unendlichkeit, in den tiefen blaugrünen Teich.
    Ein leuchtender blauer Mann, an den Hüften abgeschnitten, auf den Körper eines Pferdes gesetzt. Eine Missgeburt, entstammend einer uralten Religion, die Genetik hieß. Verlorener Angehöriger eines alten Stammes, der nicht alt war, aus einem Kontinent, den es nie gegeben hatte. Also ein Mythos. Vielleicht sogar ganz das Phantasieprodukt irgendeines Erfinders. Eine vorübergehende Laune. Möglicherweise gab es ihn gar nicht, und er würde verschwinden, wenn die Laune sich verlor.
    Seine Bedrückung wurde immer tiefer, als er sich in seinen Gedanken verlor. Er sah sein Bild im schimmernden Wasser widergespiegelt, bis es sich langsam auflöste und verschwand.
    So bin ich also wahrlich nichts, dachte er.
    Eine Kolonne kapuzenbedeckter Mönche schritt durch die Hauptstraße. Sie sangen eine unbekannte Hymne in einer unirdischen Sprache. In ihrer Mitte trugen sie eine große schwarze Kiste, die offenbar schwer war. Als sie den Waldrand erreichten, steckten sie die Kiste mit Fackeln in Brand. Nachdem die Flammen niedergebrannt waren, kehrten die Mönche in die Höhlen am Ende des Ortes zurück.
     
    Jasmine trat in den Garten. Es wucherten dicht, aber nicht hoch über dem Boden Lilien, Märzenbecher, Löwenmäulchen. Sie hob den Kopf und sah, dass der Nachthimmel ein wenig klarer wurde, die Sternenlichter hinabblinkten zu den Glühlichtern, die hinauffunkelten. Dort, eine Million Meilen über dem Dach des höchsten Gebäudes, sah sie Venus, den Abendstern des Frühlings.
    Wer wird mich lieben? dachte Jasmine.
    Sie wanderte tiefer hinab in das

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