Zeit zu hassen, Zeit zu lieben
für ungut, Frauche«, sagte der eine, diesmal in einem breiten Deutsch. »Sind wohl nicht aus dieser Gegend, wie? Bei uns freuen sich die Frauen, wenn die Männer im Herbst die Pfeifen stopfen, wegen der Mückenplage, wissen Sie. Die Biester scheuen den Tabaksqualm wie unsereiner den dreiköpfigen Potolos.« Er zog das Fenster einen Spalt herunter und erläuterte: »Nicht mehr! Ein Lüftchen, ein kleines, gut. Aber kein Wind, liebes Frauche, kein Wind, sage ich, sonst schlägt’s mir auf die Lunge und die brauche ich noch ein paar Jährchen.« Er schlug sich gegen die Brust.
Als Franziska nichts antwortete, kam er auf die Mücken zurück und sagte: »Wo viel Wasser ist, wissen Sie, da sind auch viele Mücken.« Und dann nannte er ihr die Namen der Seen, die zwischen den Wäldern blitzten, und wurde so eifrig, dass seine Pfeife erlosch.
Die Wälder wurden dichter und die Seen seltener. In Friedrichshof, einer Station mit einem winzigen Bahnhofsgebäude, stiegen Franziska und Paul aus. Sie waren die Einzigen, die den Frühzug verließen.
Franziska hatte den leichten grauen Wollmantel über ihre Schultern gelegt und trug den breitrandigen ziegelroten Hut, den Hermine Feigel ihr für diese Reise geschenkt hatte, als sie am 1. September die Miete für den Laden bezahlen wollte.
»Damit die da drüben nicht behaupten können, hier im Westen lebten wir hinter dem Mond«, hatte sie gesagt.
Auf dem Bahnsteig stand ein alter Mann. Seinen Zimmermannshut trug er in der Hand und sein weißes Haar schimmerte in der frühen Sonne. Im rechten Ohrläppchen blitzte das Wahrzeichen der bienmannschen Zimmerleute, der schmale Goldring.
Paul trug den Koffer ein Stück, stellte ihn dann auf den Boden und rannte auf den alten Mann zu. Sie schüttelten sich die Hände, sahen sich in die Augen, lange, ohne ein Wort. Erst als Franziska die Koffer genommen hatte und dicht bei ihnen war, da sagte der Alte: »Willkommen, ihr beiden! Willkommen in Ostpreußen.«
Dann wandte er sich Franziska zu. Die erste Verlegenheit wich und sie umarmte ihn. Er strich ihr über den Rücken, unbeholfen, aber als sie ihn losließ, nahm er sie bei den Schultern und schaute sie an. »Willkommen bei den Bienmanns, Tochter!«, sagte er.
Vor dem Stationsgebäude hatte der alte Mann seine Kutsche abgestellt. »Na«, sagte er zu Paul, »kannst du’s noch?«
»Verlernt man nie, Vater«, sagte Paul, schwang sich auf den Bock, löste die Bremse und band die Zügel los.
Der alte Mann half Franziska in die Kutsche und setzte sich neben sie.
Paul trieb die Pferde an. Sie fielen in einen müden Trab.
Paul drehte sich um: »Was ist mit den Pferden, Vater?«
»Alte Böcke, mein Sohn. Aber es hat sich bei den Bienmanns einiges geändert. Ich besitze nur noch diese beiden Gäule.«
»Wieso?«, fragte Paul überrascht. »Wieso nur noch zwei Pferde?«
»Lass gut sein, Paul. Ich werd’s dir später erklären. Wirst dann alles verstehen, wenn es überhaupt zu verstehen ist.«
Der Sandweg zog sich hin. Es war, wie Lukas Bienmann es in seinem Brief beschrieben hatte. Das Laub der Birken flirrte golden über den weißen Stämmen, die Fichtenschläge lagen dicht und finster, rötlich schimmerten die Stämme der Kiefern.
»Ich fahre zum ersten Mal in einer Kutsche«, sagte Franziska. »Ich kenne Kutschen nur aus dem Kino.«
»So ist es auf der Welt«, lachte Lukas Bienmann. »Du kennst keine Kutschfahrt und ich war noch niemals im Kino.«
»Kutschfahren ist schön«, sagte sie und drückte sich wohlig in die Polster.
Er freute sich und legte seine Hand auf die ihre.
Eine kräftige, schlanke Hand, dachte sie.
Paul drehte sich halb zu ihm um und fragte: »Wer eigentlich ist das Liebespaar?«
Der Alte sagte: »Gönne mir ein bisschen Wärme, Junge. Wenn man erst siebzig ist, tut es gut, eine junge Frauenhand zu spüren.«
»Ich werd’s Mutter sagen«, drohte Paul.
Lukas Bienmann lachte.
Er ist alt und hager geworden, dachte Paul und es fielen ihm die scharfen Falten auf, die sich von den Winkeln der großen Römernase bis in den Hals tief eingekerbt hatten. Die buschigen Augenbrauen, vor wenigen Jahren noch pechschwarz, waren weiß wie sein Haar und die Jochbeine zeichneten sich scharf unter der Haut ab.
Als sie in die Dorfstraße einbogen, zogen die Männer die Mützen kurz vom Haar und die Frauen beugten den Kopf zum Gruß und sie hätten es wohl am liebsten den Kindern nachgemacht, die neben und hinter der Kutsche herrannten.
Niemals zuvor hatten sie eine
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