Zeit zu hassen, Zeit zu lieben
bleiben? Ich möchte sehen, wo der Reichspräsident wohnt, und den Reichstag möchte ich anschauen und den Zoo, die herrlichen Geschäfte mit den neuen Moden und auch das Brandenburger Tor.« Im Abteil wurde Lachen laut und Franziska besann sich darauf, dass die Mitreisenden hörten, was sie sagte. Sie wurde verlegen.
»Frolleinchen«, sagte eine fette Fünfzigerin und ihre kleinen Augen, eingebettet in rosige Apfelbäckchen, funkelten vor Vergnügen. »Frolleinchen, Berlin ist kein Dorf. Mit einem Tage kommen Sie nicht weit. Ihr Liebhaber soll Ihnen eine ganze Woche Berlin spendieren. Solange man nicht verheiratet ist, glauben Sie der Lilo Possekel, so lange sind die Männer zugänglich. Ich habe Erfahrung.« Sie seufzte tief. »Zweimal war ich verheiratet und viermal verlobt. Ich sage Ihnen, ich weiß Bescheid.«
»Vielleicht könnten wir Frau Podolski auf einen Sprung besuchen, bevor wir nach Hause zurückfahren«, schlug Paul vor.
Nach Hause, hat er gesagt, schoss es Franziska durch den Kopf und ihr wurde heiß vor Glück.
»Weißt du eigentlich, Franziska, dass der Bruno mir einen ganzen Monatslohn für Frau Podolski mitgegeben hat?«
»Geht es der denn so schlecht?«, fragte Franziska.
»Ich hoffe nicht«, antwortete Paul. »Bruno sagt, er schuldet der Frau Podolski einen Strauß roter Rosen.«
»Ich sag’s ja«, mischte sich Lilo Possekel ein, »wo die Liebe eben hinfällt.«
Paul und Franziska brachen in Lachen aus und Lilo wandte sich beleidigt ab.
Stunde um Stunde verging. Die Stationen folgten einander in immer weiteren Abständen. Es wurde still im Abteil. Schließlich fielen auch Franziska die Augen zu.
Als die Dämmerung stärker wurde und die trüben Lichter im Abteil aufglimmten, schlief sie ein.
Paul schaute sie lange an. Ihr schönes, volles Haar war leicht gekräuselt und kunstvoll zu einem Knoten geschlungen. Die dichten, seidigen Augenwimpern, von den Brillengläsern vergrößert, lagen wie Schattenmonde auf ihren Wangen. Ebenmäßig und leicht nach vorn geschoben waren ihre Zähne. Das gab dem Mund etwas Spitzbübisches. Es kam ihm in den Sinn, dass Bruno am Samstag zuvor aus der Bibel gelesen hatte: »Du bist schön, meine Freundin …«, und mit einem Male überfiel ihn die Angst, was sie wohl zu seinem Dorfe sagen würde. Bruno und er hatten es in leuchtenden Farben hundertmal ausgemalt. Aber wenn er es nüchtern betrachtete, dann musste er zugeben, dass der Ort aus einer einzigen Straße bestand, genauer aus einem sandigen, breiten, unbefestigten Weg, an dem links und rechts die einstöckigen Holzhäuser aufgereiht waren. Die meisten hatten nur zwei oder drei Zimmer, dahinter die Schuppen und Scheunen. Sicher, die dunkelbraunen Holzbalken, die die Bienmanns kunstvoll zu Wänden und Giebeln wie für eine Ewigkeit zusammengefügt hatten, die sahen in der Herbstsonne warm und anheimelnd aus und die verzierten grün gestrichenen Fensterumrandungen und die bunten Lauben vor den Eingängen der Häuser, die gaben dem Dorf etwas Leichtes, etwas Fröhliches. Auch die kleinen Gärten, in denen jetzt im Herbst die Astern und Zinnien, die Sonnenblumen und Dahlien leuchteten, waren schön anzuschauen. Aber alles das war das bunte Kleid der Armen, wie Paul nur zu gut wusste. Was würde Franziska zu alldem sagen? Er fürchtete, dass er es nicht ertragen könnte, wenn sie verächtlich auf das Leben in Liebenberg herabschauen würde. Vielleicht war es falsch gewesen, diese Reise anzutreten. Sie hätten das Geld wenige Monate vor der Hochzeit besser für Hausrat und Möbel verwenden können. Er hatte das auch vorgeschlagen, aber Franziska hatte darauf bestanden, nach Liebenberg zu fahren. »Ich möchte deinen Vater kennenlernen, der so herrliche Briefe schreiben kann, und auch deine Mutter«, hatte sie gesagt.
Je näher sie ans Ziel gelangten, desto aufgeregter wurde Paul. In Allenstein stiegen sie um und in Ortelsburg und in Puppen noch einmal. Diesmal saßen zwei ältere Männer in ihrem Abteil, die miteinander redeten, aber Franziska verstand kein Wort.
»Masurisch«, flüsterte Paul ihr ins Ohr.
Die beiden rauchten halblange Pfeifen und das Abteil füllte sich mit blauen Knasterwolken. Erst als Franziska das Husten nicht länger unterdrücken konnte, redete einer auf sie ein.
Paul lachte und übersetzte. »Er fragt, ob das junge Fräulein es auf der Lunge hat.«
»Noch nicht«, kicherte Franziska. »Aber wenn die beiden so weiterqualmen, dann wird’s nicht mehr lange dauern.«
»Nichts
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