Zeit zu hassen, Zeit zu lieben
genützt. Bald gehen sie in die Knie.«
»Wir halten es auch nicht mehr lange aus«, meinte Franziska. »Fräulein Feigel hat vorgestern der Frau Baron einen Hut geliefert und hat sage und schreibe fünfeinhalb Milliarden Mark dafür erhalten. Und als sie heute Hutband gekauft hat, da hat sie für ihre ganzen Milliarden nur noch fünfunddreißig Zentimeter Band der schlechteren Qualität bekommen können.«
»Das ist die Inflation«, sagte Bruno. »Sie hätte eben vorgestern gleich kaufen müssen. Der Manfred hat erzählt, dass die Arbeiter auf der Hütte täglich ihren Lohn bekommen. Die Frauen warten am Werkstor, packen die Geldscheine in große Taschen und rennen damit in die Geschäfte. Wenn sie Glück haben, ergattern sie etwas für das Geld.«
»So werden die kleinen Leute betrogen«, sagte Paul bitter und dachte an sein Sparkonto, auf das er seit vier Jahren jeden Lohntag etwas eingezahlt hatte und das wahrscheinlich nicht einmal mehr reichen würde, die Reise nach Ostpreußen zu bezahlen.
»Vergiss nicht, rechtzeitig die Pässe für die Ausreise zu beantragen«, mahnte Bruno.
Frau Reitzak schüttelte den Kopf. »So weit sind wir also schon gekommen dass man sogar innerhalb der deutschen Grenzen Zollschranken errichtet und nicht mehr ohne ein französisches ›Oui‹ seine Verwandten im Westfälischen besuchen kann.«
»Oui«, sagte Bruno, »so ist es.«
An diesem Abend wälzte Bruno sich lange schlaflos auf seinem Strohsack. Als er Paul in die Kammer kommen hörte, stand er auf und ging zu ihm hinüber.
»Kannst du nicht einschlafen?«, fragte Paul.
»Nein.«
»Was macht dir den Kopf heiß, Bruno?«
»Ach, Paul, du hast gesagt, dass du im Knast einen richtigen Rechtsanwalt kennen gelernt hast.«
»Stimmt. Dr. Heinrich-Wilhelm Hernieden heißt er.«
»Du könntest mir einen Gefallen tun, Paul.«
»Ja?«
»Ich möchte mit ihm reden. Ich brauche einen Rat von ihm.«
»Immer noch der Offizier?«
»Ja, Paul. Es lässt mir keine Ruhe.«
»Gut, ich will sehen, was ich machen kann. Aber du darfst eine solche Bekanntschaft nicht überschätzen. Weißt du, in der Zelle geht dir das Du leicht von den Lippen, aber in seinem Büro schluckst du wahrscheinlich daran herum. Ich weiß nicht, ob es da noch viel wert ist.«
»Du wirst es versuchen?«, fragte Bruno.
»Ja, Padre.«
»Danke«, sagte der Junge und ging in seine Kammer zurück.
32
Im Abteil der vierten Wagenklasse waren alle Plätze besetzt. Kurz nach dem schwierigen Umsteigen in Berlin vom Charlottenburger Bahnhof zum Schlesischen Bahnhof waren die Reisenden miteinander ins Gespräch gekommen. Ein altes Ehepaar wollte nach Nikolaiken reisen, um noch einmal die Heimat wieder zu sehen, bevor sie ins Gras beißen würden. Vierunddreißig Jahre lebten sie bereits im Ruhrgebiet und nie habe das Geld für die Fahrt nach Nikolaiken gereicht. »Die Kinderchen, wissen Sie«, sagte die Frau. »Neun an der Zahl. Sieben leben noch und alle sind sie etwas geworden. Sie haben das Fahrgeld für uns zusammengetan und uns diese Fahrt geschenkt. Gute Kinderchen, nicht wahr, Alfred?«
Er nickte. »Bin gespannt auf die Heimat, Frau«, sagte er etwas besorgt. Er fuhr sich mit beiden Händen über den runden Kahlkopf und brummte vor sich hin: »Vierunddreißig Jahre ist eine lange Zeit, Frau. Bin gespannt, ob wir sie noch wieder erkennen, die Heimat.«
Über ihr breites, gutmütiges Gesicht legte sich ein Lächeln. »Aber sicher doch, Alfred. Meine Schwester hat uns jedes Jahr zu Weihnachten einen langen Brief geschrieben und alles über Nikolaiken berichtet. Ich hab’s mir ausmalen können. Brauchst dich nicht zu ängstigen. Wir finden sie wieder, die Heimat.«
Franziska hatte die Reise bis nach Berlin genossen. Die riesige Stadt hatte sie begeistert: die gewaltigen Gebäude, die breiten Alleen, die weiten Plätze und Parks, das Getriebe in den Straßen. Häufig vergaß sie, dass sie sich nicht allein mit Paul im Abteil befand. »Sieh doch mal, Paul, wie herrlich! Ich hätte nie geglaubt, dass es so etwas gibt!«, rief sie immer wieder und schließlich sagte sie mit leichtem Vorwurf: »Du hast mir Berlin ganz anders geschildert, viel düsterer, gefährlich geradezu.«
Sie fuhren wenig später eine Strecke, die wie eine Schneise durch die Hinterfronten großer Mietskasernen geschlagen worden war.
»In die Höfe dort dringt niemals die Sonne«, antwortete er.
Sie wurde nachdenklicher und bat ihn: »Können wir nicht bei der Rückfahrt einen Tag in Berlin
Weitere Kostenlose Bücher