Zeit zu hassen, Zeit zu lieben
Frau mit einem großen roten Hut gesehen. Nicht einmal die Töchter vom Gut hätten sich getraut, mit solchen Gebilden durchs Dorf zu fahren. »Ein hochfeines Frauche hat der Paul an der Hand«, sagte der Briefträger Wattkau und trug diese Nachricht noch am selben Tag in die meisten Häuser, ja bis zu den Bauernhöfen weit abseits des Dorfes.
Lisa Bienmann empfing ihren Sohn und seine Braut vor der Tür und hielt ihnen Brot und Salz entgegen. »Willkommen in unserem Haus!«, sagte sie.
33
Es war ein verregneter September. Nichts war zu spüren von Altweibersommer und warmer Herbstsonne. Selbst die Spinnen schienen zu zögern, ihre Netze bei Nässe und ruppigem Wind auszuspannen. Das Laub auf den Obstbäumen in den Gärten und Höfen begann sich zu färben. Die Platanen auf der Straße vor Barons Stall klatschten ihre regenschweren Blätter auf das Pflaster. Bruno hatte Mühe, sie mit dem Reiserbesen zusammenzukehren und auf die Schubkarre zu laden.
»Fahr das Laub auf den Misthaufen«, hatte der Stallbaron angeordnet. Der hatte gut reden.
Missmutig gesellte sich auch Alwin mit Besen und Schaufel zu Bruno. »Ich glaube, der will uns aus dem Stall und vom Hof verscheuchen«, murrte er. »Die reinste Sisyphusarbeit ist das ja.«
»Was für eine Arbeit?«, fragte Bruno.
Alwin lachte. »Ist das nicht eigenartig?«, sagte er. »Da gehe ich zum Gymnasium, das achte Jahr bereits, und dort drillen sie mir eine ganz andere deutsche Sprache ein. Ich spreche zu dir und du musst fragen, was ich eigentlich meine.«
»Du meinst, es gibt mehrere deutsche Sprachen?«
»Ja, Bruno, das meine ich. Mein Vater schimpft manchmal und sagt: ›Alwin, rede so, wie dir der Schnabel gewachsen ist‹, aber dann hätte er mich nicht aufs Gymnasium schicken dürfen. Wenn dir die Lehrer jahrelang die Art zu sprechen austreiben, die du von der Mutter gelernt hast, dann darf sich niemand wundern, wenn du endlich sprichst wie sie.«
»Magst recht haben«, sagte Bruno. »Ich will auch zur Schule.«
»Warum? Du hast doch ’ne gute Stelle. Der Steiner hat selbst nur die eine Tochter. Vielleicht ist er froh, wenn er einen Nachfolger großziehen kann. Was spinnst du dauernd von der Schule?«
»Nun, ich will zum Beispiel wissen, was Sisyphusarbeit ist.«
Alwin erzählte von Sisyphus aus der griechischen Sagenwelt, der zweimal den Tod überlistete und der von den Göttern hart bestraft wurde. Bis in alle Ewigkeit muss er immer wieder einen schweren Stein bis auf den Gipfel eines Berges wälzen. Von dort rollt der gewaltige Brocken ins Tal zurück und erneut beginnt Sisyphus mit seiner stumpfsinnigen Arbeit.
Ein harter Windstoß wirbelte die Blätter aus Brunos Schubkarre. »Sisyphusarbeit!«, rief er.
»Kapiert!«, bestätigte Alwin.
Die Bierkutscher hatten sich inzwischen alle im Stall eingefunden, aber keiner machte Feierabend. Sie saßen auf den Futterkisten und redeten hitzig aufeinander ein. Jedes Mal, wenn Bruno die Blätterkarre durch den Stall schob, verstummten sie, aber ihre Erregung war zu spüren. Sie tranken hastiger als sonst und zogen in kurzen, heftigen Zügen an ihren Pfeifen.
»Sie sind wütend auf den Bilarski«, sagte Alwin.
»Vielleicht haben sie herausbekommen, dass er hier im Stall die Internationale singt«, vermutete Bruno.
»Das wäre zwar so, als ob einer am Sonntag in der Kirche ›Es war einmal ein treuer Husar‹ anstimmen würde«, grinste Alwin, »aber das ist es nicht. Sie reden etwas von Diebstahl daher.«
»Vielleicht hat Bilarski sich erwischen lassen. Er füllt immer von dem Hafer in seine Butterbrotdose«, sagte Bruno. »Futter für seine Karnickel. Die werden rund und fett davon.«
»Für ’ne Handvoll Hafer ein solches Theater?«, zweifelte Alwin. »Ich glaube eher, dass sie es gemerkt haben.«
»Was haben sie gemerkt?«
»Hat Manfred dir noch nichts davon gesagt?«
»Red schon, Alwin, und spann mich nicht auf die Folter.«
»Die Handgranaten sind weg.«
»Die Kisten vom Dachboden sind weg?«
»Ja, die Waffen auch. Alles ist verschwunden.«
»Du meinst gestohlen?«
»Was weiß ich? Ich hatte angenommen, sie hätten vielleicht entdeckt, dass die drei Handgranaten fehlen, die wir zum Fischen herausgenommen haben, und die, die das Zeug da oben verborgen haben, die hätten sich ein neues Versteck gesucht. Aber dann gäbe es nicht das Gerede von Diebstahl.«
»Ob sie uns verdächtigen?«
»Bestimmt nicht. Vorige Woche haben Dachdecker das Dach neu eingedeckt. Die Installateure waren da. Die
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