Zeit zu hassen, Zeit zu lieben
und Robert war doch bei so vertrautem Umgang miteinander, wie er in einer Zelle nun mal nicht zu vermeiden ist, entschieden einfacher als Herr Doktor, Herr Amtsrat oder Herr von Bödenberg.
Am Abend des zweiten Tages wurde Paul ohne große Erklärungen entlassen. Ein Versehen. Punktum.
Vor dem Gefängnistor warteten einige Verwandten der Inhaftierten und bestürmten ihn mit Fragen, aber sie wussten mehr als er und er erfuhr zum ersten Mal den Grund der Verhaftungen. Die Männer waren als Geiseln festgesetzt worden. Je drei von ihnen wurden mit einem Wachkommando in einen Eisenbahnwagen gesetzt, der an die Kohlenzüge angekoppelt wurde. »Kein Saboteur wird es wagen seine eigenen Landsleute in die Luft zu sprengen«, hatte General Beaurain, der Befehlshaber der belgischen Besatzer gesagt und er behielt Recht. Drei Wochen lang sorgten die kaisertreuen Herren dafür, dass die Transporte mit den Vertragsgütern unbehelligt nach Westen rollen konnten. Dann wurden die Männer ohne Vorankündigung entlassen.
Friedrich Cremmes kam verlaust, verdreckt und mit einem drei Wochen alten weißgrauen Stoppelbart in die Blütentalstraße zurück. Er sah abenteuerlich aus mit seinen verfilzten Haaren und den zerknitterten Kleidern.
»Ekelhaft!«, stieß Frau Cremmes hervor, aber schloss doch ihren Gatten beherzt in die Arme, bevor sie einen großen Kessel Wasser erhitzte und den wilden Märtyrer für Kaiser und Vaterland wieder in den friedlichen Postamtmann Friedrich Cremmes zurückverwandelte.
Für Paul war während der Hafttage ein Brief seines Vaters angekommen. Das Besondere daran war, dass er auch einen Briefbogen beigefügt hatte, der die Überschrift »Liebe Tochter Franziska« trug. Ganz herzlich lud er Franziska ein mit Paul zu Besuch nach Liebenberg zu kommen. Seine Frau und er freuten sich darauf, Franziska kennen zu lernen. Seine Lisa bete jeden Tag ein paar »Gegrüßet seist du, Maria«, damit Paul eine gute Frau bekäme, aber er sei ziemlich sicher, dass sie, die Franziska, die Richtige sei. Denn wenn den Bienmanns im Leben auch manches quergelaufen sei, mit ihren Frauen und mit den Pferden hätten sie immer großes Glück gehabt. Sie solle nur kommen und nicht zu bald wieder zurückfahren. Die Gegend sei im Spätsommer ganz annehmbar, wenn die Birken ihre Goldkleider übergestreift hätten und das Wollgras weiße Tupfen auf das Moor male.
»Dein Vater drückt sich aus wie ein Poet«, sagte Franziska.
Paul wurde ein wenig verlegen, antwortete aber dann doch: »Ich glaube, er ist der Letzte in unserer Familie, der die Welt mit besonderen Augen sieht. Mein Großvater Karl war ein Maler. Du wirst seine Bilder in unserem Haus sehen können. Aber ihm hat seine Kunst kein Glück gebracht. Er ist nach Amerika verschlagen worden. Dort ist er verschollen und die Spur seiner Bilder hat sich schließlich verloren. Mein Vater hat in seiner Jugend herrliche Figuren geschnitzt, aber mit zunehmendem Alter haben die Geschäfte seine Kunstfertigkeit aufgefressen.«
»Und du?«, fragte Franziska.
»Ich schlage nach meiner Mutter. Sie war mehr fürs Praktische.«
»Schade«, sagte Franziska.
Paul lachte und rief: »Vielleicht reicht es auch, wenn einer in der Familie mit der Kunst auf du und du steht.«
»Wie meinst du das?«, fragte Franziska.
»Na, Ziska, Mädchen, ist das denn keine Kunst, was du mit Zeichenstift, Schere, Nadel und Faden hervorzauberst?«
Franziskas Augen glänzten vor Freude. »Die Frau Baron meint das auch und hat mir schon viele Kundinnen geschickt. Aber dass du mir das sagst, Paul, ist mir hundertmal mehr wert.«
Sie überlegten, dass sie im frühen September gemeinsam nach Ostpreußen fahren könnten. Die Hochzeit sollte dann Ende November an Franziskas dreiundzwanzigstem Geburtstag sein.
Mitten in ihre Überlegungen hinein platzte Bruno mit einer Neuigkeit. »Stellt euch vor, Eberhard Beilen und die anderen Bergleute hier im Viertel, sollten heute Kohlen vom Pütt geliefert bekommen. Vierzig Zentner stehen dem Eberhard als Bergmann zu. Und was passiert? Die Belgier haben die ganze Deputatkohle der Kumpel beschlagnahmt.«
»Auf die paar Wagen Kohle sind sie schon scharf?«, wunderte sich Paul. »Dann werden sie wohl bald mit ihrem Latein am Ende sein. Sie sollen jedenfalls durch den passiven Widerstand viel weniger Kohle bekommen haben als je zuvor.«
Bruno sagte: »Kaplan Klauskötter hat erzählt, dass sie bisher über hunderttausend Menschen aus dem Ruhrgebiet ausgewiesen haben. Hat nichts
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