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Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Titel: Zeit zu hassen, Zeit zu lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
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aber in Eisleben endgültig die Fahrt aufgeben zu wollen. Der Zugführer und der Schaffner gaben die spärlichen Auskünfte weiter, die sie über das Telefon bekommen hatten: Die Strecke sei blockiert, es werde gestreikt, allerdings gebe es die Hoffnung, über eine Nebenstrecke wenigstens Braunschweig erreichen zu können.
    Die Menschen im Abteil nahmen diese Nachrichten gelassen hin. Der Krieg und die Monate nach Kriegsende hatten wohl jedem das geduldige Warten beigebracht: Warten auf Post von der Front, Warten auf die Heimkehr aus der Gefangenschaft, Warten auf Brot und Kartoffeln, Warten auf bessere Zeiten. Nach elf Stunden endlich hatte der Zug die Strecke Eisleben–Wolfenbüttel–Braunschweig hinter sich gebracht. Das Wetter war über Nacht umgeschlagen. Aus tief hängenden Wolken brachen immer wieder Schauer herab. Die Dächer über den Bahnsteigen boten keinen Schutz, denn ein kalter Wind fegte den Regen bis in die letzten Winkel.
    »Ich versuche, etwas Warmes aufzutreiben.« Zirbel kramte in seinem Gepäck nach einer Blechkanne. »Haltet mir den Platz frei, ich komme zurück.«
    »Ich gehe mit«, sagte Bruno und Zirbel nickte.
    Der Tunnel, der zu den Bahnsteigen führte, war vollgestopft mit Menschen. In der Bahnhofshalle war kaum ein Durchkommen. Überall hockten und lagen Frauen und Männer, Kinder schrien, ein Hund bellte, ein junger Mann spielte auf seiner Harmonika. Der Junge hatte Mühe, Zirbel nicht aus den Augen zu verlieren.
    An der Sperre holte der Junge ihn ein. Dort saß ein Bahnbeamter, der geduldig Auskünfte gab. Nein, seit zwei Tagen sei kein Zug mehr abgefertigt worden. Nein, ein Ende des Streiks sei nicht in Sicht. Ja, es gehe vor allem um höheren Lohn, denn das Geld reiche vorn und hinten nicht. Ja, heißer Kaffee werde von der Bahnhofsmission ausgeschenkt. Nein, zu essen könne man im Augenblick nichts kaufen. Ja, vielleicht gebe es gegen Mittag wieder einen Liter Suppe aus der Volksküche für jeden.
    Zirbel ergatterte Kaffee, eine dunkle, dampfende Brühe. Im Abteil schenkte er davon aus. »Bitter wie Galle«, murmelte Frau Barsuhn. »Aber Gott sei Dank heiß«, fügte Paul hinzu.
    Die meisten aßen von ihrem Reiseproviant. Paul und Bruno hatten noch einige in der Schale gekochte Kartoffeln, die Frau Podolski ihren wenigen Vorräten entnommen hatte. »Eine lange Fahrt«, hatte sie gesagt, »und verhungern sollt ihr mir nicht.«
    Paul und Bruno pellten die dünne Haut von den Kartoffeln ab, vorsichtig, damit auch nicht ein Bröckchen mit der Schale weggeworfen wurde. Die Mittagssuppe aus der Volksküche reichte an diesem Tag längst nicht für alle. Die meisten Menschen im Zug gingen leer aus. Viele schimpften laut auf die streikenden Eisenbahner, andere meinten, man solle lieber der Regierung an den Kragen, denn schließlich könne man die Männer von der Bahn verstehen. Wenn der Lohn für die Arbeit nicht einmal den Hunger fern-halten könne, dann bleibe eben nichts als Kampf.
    Im Zug hatten sich die prophetischen Fähigkeiten des zahmen Raben herumgesprochen. Immer wieder kamen Leute, die wenigstens durch einen Spalt in die Zukunft schauen wollten. Frau Barsuhn hatte angedeutet, dass ein hungriger Rabe und eine weise Frau mit leerem Magen wohl kaum in der Lage seien, zuverlässige Auskünfte von Gewicht und Bedeutung zu erteilen, und Lebenslose seien nun mal nicht billig. Das sahen viele ein und so gelangten Schätze in das Abteil, die Bruno schon lange nicht mehr gesehen, geschweige denn gegessen hatte. Frau Barsuhn wurden köstliche Sachen in den Korb gelegt. Einige hart gekochte Eier, in Papier eingeschlagenes Sauerkraut, ein Eckchen Käse, ein paar Scheiben Schinken und ein kleines Stück Speck. Auch gekochte Kartoffeln und Brot und sogar zwei Heringe fanden sich. Frau Barsuhn selbst aß nur wenig. »Bei mir schlägt sich jeder Happen gleich auf die Pfunde«, klagte sie. Freigebig teilte sie aus und selbst Zirbel war beeindruckt und sagte: »Ich hätte nie für möglich gehalten, dass man mit der Zukunft die Gegenwart so angenehm gestalten kann.«
    Das Leben auf dem Bahnhof jedoch wurde von Stunde zu Stunde weniger erträglich. Wenn der kalte Wind für ein paar Minuten nachließ, verbreitete sich schnell der beißende Geruch aus den vielen Zugtoiletten, die entgegen den Vorschriften benutzt worden waren. Da half auch die Weisheit wenig, die im Abteil die Runde machte: Erfroren seien schon viele, erstunken aber sei noch niemand.
    Am Nachmittag des dritten Tages kam Bewegung in

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