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Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Titel: Zeit zu hassen, Zeit zu lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
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gesagt, und die Susanna, das bin ich. Und ich hab sie lange Zeit behalten, auch über Jahre hin wohl ganz vergessen. Hab mich auch nicht recht darum gekümmert, weil mir das Lesen so schwerfiel. Nur einmal, ich war über Wochen hin krank, und keiner hätte einen Pfifferling dafür gegeben, dass ich wieder gesund würde, da waren mir die Lose ein liebes Spielzeug. Mein Vater hatte mir, wer weiß, wo er’s herhatte, einen ganzen Stapel Silberpapier mitgebracht. Das hab ich mit Mutters Schere in regelmäßige Stücke zerschnitten. Die Lose hab ich dann sorgfältig zu kleinen Röllchen zusammengedreht und Silberpapier darum gehüllt. Mein Kästchen sah aus wie eine Schatzkiste.
    Ja, und dann eines Tages, da flog mir der Jakob hier zu. Ob ihn einer aus dem Nest geholt und aufgezogen hat, ich habe keine Ahnung. Wer aber weiß, wie scheu die Raben sind, der wird sich denken können, dass mir dieser Vogel wie ein Wunder vorkam. Ich war damals an die fünfzig Jahre alt und hab rundum auf den Höfen für Kost und Logis an den Nähmaschinen gesessen und Wäsche geflickt und ab und zu die Aussteuer für eine Bauerntochter genäht. War ein hartes Leben. Und wurde immer härter, weil mir das Rheuma die Finger allmählich krumm zog. Ich war nie auf Rosen gebettet. Von Kindesbeinen an hab ich hart arbeiten müssen.
    Also, wie gesagt, der Rabe kam und flog mir auf den Arm. Ich bin zusammengezuckt und zurückgewichen. Da hüpfte er auf den chinesischen Kasten hier und tippte ganz vorsichtig mit seinem Schnabel auf dem goldenen Haken herum, der den Deckel fest verschließt. Ich denke, Susanna, denke ich, der Vogel will dir nichts Böses, und gehe vorsichtig auf ihn zu. Er fliegt nicht weg. Ich öffne, ich weiß nicht, warum, den Deckel. Der Jakob starrt auf die Silberröllchen, legt seinen Kopf auf die Seite, dreht ihn ganz nach hinten, krächzt so laut, dass ich zusammenfahre, stößt mit dem Schnabel in den Kasten und, man soll es nicht glauben, nimmt keineswegs das erste beste Los heraus, sondern fasst ein ganz bestimmtes, gerade so, als ob er dieses und kein anderes gesucht hätte, und setzt sich wieder auf meinen Arm und hält es mir hin. Ich fasse es mit der anderen Hand. Er gibt es mir ganz willig. Ich belohne ihn mit einem Krümelchen Käse und denke mir nichts weiter dabei. Obwohl das Fenster weit offen steht, der Jakob fliegt nicht davon, bleibt bei mir, jetzt schon an die fünfzehn Jahre lang.
    Am Abend kommt mein Vater, weit über siebzig und noch jeden Tag von morgens bis abends in Stall und Feld, und lässt sich die Geschichte erzählen. Er kramt seine Brille hervor – er konnte besser lesen als ich und las sogar am Sonntag im Wirtshaus in der Zeitung –, er setzt sich also die Brille auf die Nase, rollt das Lebenslos auf und liest und schüttelt den Kopf.
    ›Was steht da geschrieben?‹, dränge ich ihn.
    ›Es steht geschrieben‹, sagte er leise, ›es steht geschrieben:
    Krank und kein Dach,
alt und kein Mensch,
aber alles, aber alles
fällt vom Himmel zurück.‹
    Erst konnte sich niemand einen Reim darauf machen, aber dann hat der Jakob meinem Vater ein Los gezogen, und darauf hat gestanden:
    ›Bedeckt dich ein Tuch,
ein schwarzes Tuch,
eh’ der Sommer vergeht,
fällt vom Himmel ein Stern.‹
    Und einen Monat danach ist mein Vater gestorben. Zum Spaß hab’ ich später auf den Höfen den Jakob die Lose ziehen lassen und immer ist eingetroffen, was er herauszog. Manchmal sehr schnell, manchmal erst nach Jahren.«
    Eine Weile schwiegen alle im Abteil. »Fauler Zauber, das alles«, versuchte der junge Mann den Bann zu brechen und knöpfte seine Uniformjacke bis oben hin zu, als ob er die Geschichte nicht an sich herankommen lassen wollte.
    »Was ist denn aus Ihren Losen geworden, Frau?«, fragte Bruno.
    »Das ist schnell erzählt, Junge. Ich hab bald nicht mehr zu nähen brauchen. Die Leute kamen und wollten in ihre Zukunft schauen. Sie legten dann eine Münze in Jakobs Korb und so zahlte die Zigeunerin hundertfach zurück, was meine Mutter ihr zugesteckt hatte.« Die alte Frau schaute Bruno an und sagte: »Du hast für mich gelesen, Junge, willst du wissen, was mit dir wird?« Als sie sah, dass Bruno zögerte, fügte sie hinzu: »Brauchst mir nur deinen Namen zu sagen. Die Münze will ich dir nachlassen.«
    »Meinetwegen«, sagte Bruno, aber es war ihm nicht ganz wohl dabei, »Bruno heiß ich.«
    Die Frau schloss die Augen und sagte beschwörend:
    »Der Rabe zieht aus dieser Dose
die schwarzen und die weißen

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