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Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Titel: Zeit zu hassen, Zeit zu lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
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rüttelte ihn bald wach.
    »Gleich sind wir in Dortmund«, flüsterte er. »Wir müssen umsteigen.«
    Frau Barsuhn saß nicht mehr an ihrem Platz. Sie war in Bielefeld ausgestiegen. Dort, wo sie gethront hatte, war Raum genug für zwei andere Reisende. Der Zug hielt in Dortmund. Zirbel, der wie fast alle im Abteil schlief, wurde wach. Er sah, dass Paul und Bruno ausstiegen, und rief ihnen nach: »Und denk an die Adresse, Paul! Es ist ein gutes Kosthaus bei meiner Tante Mathilde.«
    Der Anschlusszug nach Gelsenkirchen stand schon auf dem Nachbarbahnsteig bereit zur Abfahrt. Sie mussten sich beeilen. Es war ein Vorortzug, der da wartete. Sie fanden Platz in einem kalten Abteil, in dem nur einige Arbeiter saßen, die von der Nachtschicht kamen und nach Hause fuhren. Sie sahen erschöpft aus und redeten wenig miteinander. Sie schienen überzeugt davon, dass ein Generalstreik unmittelbar bevorstehe.
    Wie soll ich hier nur Arbeit finden, dachte Paul. Als sie in Gelsenkirchen den Zug verließen, drang die Sonne wie ein hellgelber Tupfer durch einen dünnen Wolkenschleier. Kirchenglocken klangen auf. »Es ist Sonntag heute«, sagte Bruno.
    Sie mussten noch weit mit der Straßenbahn fahren, bis sie die Bergarbeitersiedlung im Norden der Stadt erreicht hatten.

8
    »Das also ist die Kolonie«, sagte Bruno und er schaute auf die langen Reihen niedriger Doppelhäuser, die links und rechts der Straße aufgereiht standen, einander zum Verwechseln ähnlich: aus Ziegelsteinen aufgemauert, ein Geschoss über einem halb aus der Erde herausragenden Keller, ein abgewalmtes Dach mit schmalen Dachfenstern, die Eingangstür in der Mitte des Hauses über fünf Steintreppenstufen zu erreichen, zwei Fenster links, zwei Fenster rechts, dazu im Giebel unten zwei Fenster und eins in der Mitte, dicht unter dem First. Zwischen der schmalen geschotterten Fahrbahn und der Häuserfront lagen Gehsteig und Vorgarten. Ziemlich eng stehende Reihen von Platanen gaben mit ihrem ersten Grün den dunklen Ziegelfronten ein freundliches Aussehen.
    »Wenn ich an die riesigen Häuser in Berlin denke«, sagte Paul, »dann ist das hier gar nicht so schlecht.«
    »Wenn ich an Liebenberg denke«, entgegnete Bruno, aber er sprach nicht weiter.
    »Mach dir nichts vor, Bruno. In Liebenberg gibt es für dich keine Zukunft.«
    »Und die Zimmerleute bei Lukas Bienmann, Paul?«
    »Junge, denen geht’s in schlechten Zeiten zuallererst schlecht. Wer baut schon Häuser in diesen unsicheren Tagen? Hier, Junge, hier im Ruhrgebiet gibt es für einen, der anpacken will, ganz andere Möglichkeiten. Hier kannst du hochkommen, bist nicht festgelegt von Geburt an, bist ein Mann, der frei entscheiden kann, was er will.«
    Zwei Mädchen in Sonntagskleidern kamen ihnen entgegen.
    »Guten Morgen«, redete Paul sie an. »Wir suchen das Haus von den Warczaks. Wisst ihr, wo der Hubert Warczak wohnt?«
    Sie tuschelten kurz miteinander, kicherten, steckten den schwarzen und den roten Haarschopf zusammen und antworteten: »Sie stehen genau davor.« Eine zeigte auf das Haus. »Da, auf der anderen Straßenseite.« Sie liefen so schnell davon, dass die Zöpfe flogen. Bruno schaute ihnen nach. »Lass die Weiber!«, sagte Paul. »Wenn du wirklich hochkommen willst, dann darfst du keine Flausen im Kopf haben, weder schwarze noch rote.«
    Er schritt voran, sprang die Stufen hoch und klopfte. Bruno folgte ihm. Er spürte seinen Magen wie einen Stein. Er hatte Hubert seit Mitte des Krieges nicht mehr gesehen. Damals war der älteste Warczaksohn als Soldat für ein paar Tage aus dem Ruhrgebiet nach Liebenberg gekommen. Er hatte seinen Sohn Siegfried mitgebracht, einen hellhäutigen Jungen von vielleicht acht Jahren. Der Siegfried Warczak war ihm deshalb im Gedächtnis geblieben, weil Bruno niemals zuvor einen Jungen gesehen hatte, der so lange hellblonde Haare trug. Zuerst hatten einige Kinder im Dorf behauptet, Siegfried sei ein Mädchen, aber der Samtanzug mit den dreiviertellangen Hosen und auch sein Name machten dem Irrtum schnell ein Ende. Bevor sie das Kind jedoch mit ihrem Spott treffen konnten – sie nannten den Jungen unter sich Sieglinde –, waren er und sein Vater wieder in den Westen zurückgereist. »Ein schöner Junge ist er, mein Enkel Siegfried«, hatte Mutter Warczak jedes Mal gesagt, wenn ihr Blick auf das Foto des Kindes fiel, das Hubert ihr zum Abschied geschenkt hatte und das mit einer Nadel an die Holzwand gespießt war. Wenn dann Bruno den Kopf traurig senkte, dann zog sie ihn

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