Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Titel: Zeit zu hassen, Zeit zu lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
Vom Netzwerk:
die Menschenschar. »Der Streik ist zu Ende!«, schrie einer über den Bahnsteig. So manches Gerücht war in den letzten Tagen aufgekommen und nur wenige glaubten daran, dass die Eisenbahner eine Einigung mit der Regierung erzielt hatten. Es war aber doch so.
    Nach einer weiteren Stunde stand die Maschine wieder unter Dampf, der Mann mit der roten Mütze tauchte auf und blies den schrillen Pfeifton zur Abfahrt.
    Nur einmal gab es im Abteil noch Aufregung und heftigen Streit, als nämlich Zirbel einen weiteren Versuch wagte und laut auf Paul einredete, er solle sich doch auch anwerben lassen und sich für ein Freikorps melden.
    »Lass den Jungen in Frieden!«, schimpfte mit hoher, scharfer Stimme ein Mann, der sicher über vierzig Jahre alt war und bisher während der Fahrt keine zehn Sätze gesprochen hatte. Seine zierliche, schüchterne Frau, die sich jetzt dicht an ihn drängte, bat ihn ängstlich: »Christoph Koch, schweig bitte still! Du weißt doch, wohin das führt.«
    Er schob sie brüsk von sich weg und sprach: »Die Freikorps verhindern das neue Deutschland. Der Minister Noske, dieser brutale Mensch, schickt seine Bluthunde los nach Bremen, ins Ruhrgebiet und sicher auch bald nach Bayern. Eine Viertelmillion steht unter Waffen. Lässt die Arbeiter- und Soldatenräte zusammenkartätschen. Und wozu?«
    »Ganz einfach«, antwortete Zirbel heftig. »Weil wir eine Nationalversammlung gewählt haben. Die Räte sind überflüssig. Wenn die ans Ruder kommen, geht alles drunter und drüber. Wer hält Deutschland dann zusammen? Wir haben ein Parlament. Wer sich gegen diese Demokratie stellt, der soll zur Hölle fahren!«
    »Diese Demokratie!«, höhnte Koch. »Diese Demokratie wird alles beim Alten lassen. Die Rosa Luxemburg und unseren Karl Liebknecht haben sie kaltblütig ermordet. Die gestern mächtig waren, die sind es heute und werden es morgen noch sein. Beamte, Richter, Offiziere …«
    »Rede nicht schlecht von den Offizieren, Koch!«, rief Zirbel. »Die sammeln die Korps um sich. Sie allein schaffen Ordnung. Wer sorgt denn dafür, dass Ebert einen Staat aufbauen kann, in dem es allen gut geht?«
    »Kriegerische Horden sind das, Landsknechte wie im Dreißigjährigen Krieg, diese Westentaschengenerale, der Reinhardt, den sie in Berlin den Schlächter nennen, die Eiserne Schar mit ihrem Dengler an der Spitze, von Heydebreck mit dem Werwolf und wie sie alle heißen mögen. Die wollen nie und nimmer eine Demokratie. Die möchten lieber heute als morgen ihren Kaiser im Festzug aus Holland zurückholen.«
    »Unsinn!«, widersprach Zirbel.
    Koch stand auf und schüttelte seine Frau von sich, die ihn halten wollte.
    »Alles Unsinn!«, behauptete Zirbel noch einmal. »Was nützt uns denn das gewählte Parlament, was helfen uns die besten Ideen, wenn sie nicht durchgesetzt werden können?«
    »Wie ein schöner Hund ist das, dem sie die Zähne ausgebrochen haben«, mischte sich Frau Barsuhn ein. »Bellen kann er vielleicht noch, wenn sich ein Dieb einschleicht. Wir hatten auf unserem Hof auch mal so einen …«
    »Hör auf mit deinem blöden Hund, du alte Vettel!«, zischte Koch sie an. »Ich sag’s euch: Wer in den Freikorps mal Blut geleckt hat, der kommt nie mehr davon los.«
    Frau Koch begann, leise vor sich hin zu weinen.
    »Du bist ein Revoluzzer«, sagte Zirbel.
    »Und du bist ein reaktionärer Grünschnabel!«
    Schon zuckten Fäuste hoch, da bremste der Zug scharf. Zirbel, dessen Füße zwischen zwei Gepäckstücken eingekeilt waren, stürzte der Länge nach über Kisten und Kästen. Koch konnte sich im letzten Moment abstützen, aber ein schweres Bündel wurde aus dem Gepäcknetz geschleudert und fiel ihm auf den Rücken. Er richtete sich auf. Immer noch lag das Bündel auf seinen Schultern.
    »Reisende mit Traglasten!«, rief Paul. Da mussten selbst die Streithähne lachen.
    »Wird sich zeigen, wer recht hat«, sagte Frau Barsuhn.
    »Lassen Sie bloß den Raben im Korb«, wehrte Zirbel ab. »Für Ihre Altersversorgung mag der ja Gold wert sein, aber er verdummt nur die, die ihm glauben wollen.«
    »Darin sind wir uns ausnahmsweise mal einig«, sagte Koch versöhnlich, nahm ein Stück Kautabak aus der Schachtel, zögerte einen Augenblick, bot aber dann doch Zirbel ein Eckchen davon an.
    Der Zug ratterte durch die Nacht, hielt oft und lange an Bahnhöfen. Hildesheim, Elze, Hameln, Vlotho, Herford, Bielefeld, Hamm … Im Halbschlaf drangen die Namen Bruno ins Ohr. Gegen Morgen war er fest eingeschlafen, aber Paul

Weitere Kostenlose Bücher