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Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Titel: Zeit zu hassen, Zeit zu lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
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entstand, er hat ihn aufgezeichnet und auf die Hölzer übertragen und hat die Zukunft aus seinem Kopf Strich um Strich und Balken um Balken in die Wirklichkeit gebracht. Und der hat’s mir beigebracht, Frau Barsuhn, dass kein Mensch sagen kann, die Zukunft käme über ihn und er müsste sie halt erdulden wie ein dunkles Geschick und nichts könnte er dazu beitragen, wie sie aussieht. Und, bitte schön, Frau Barsuhn, verzeihen Sie, dass ich ihm mehr glaube als Ihrem Raben.«
    »Bist noch sehr jung, Paul Bienmann, sehr jung. Wirst noch bitter lernen müssen, dass keiner seines eigenen Glückes Schmied ist, sondern dass jedes Lebenslos verdammt festgeschrieben ist, festgeschrieben und eingerollt. Bist vielleicht noch zu jung und zu stark, um das zu verstehen.«
    Sie klappte den Deckel ihres chinesischen Kastens zu und barg ihn tief in ihrer Ledertasche. Der Rabe, träge von den reichlichen Futtergaben nach jedem Los, stelzte von ihrer Schulter den Arm entlang und sprang in seinen Korb.
    Der Zug hatte mehrfach kurz angehalten, mal auf freier Strecke, mal auf kleinen Bahnhöfen. Zirbel setzte sich zu Paul und Bruno. »Hat mir gefallen«, sagte er leise zu Paul. »Hat mir gefallen, was du von deinem Vater erzählt hast, Paul Bienmann. Weißt du, manchmal denk ich, in diesen unsicheren Zeiten, in denen keiner heute weiß, wie es morgen weitergehen soll, da wollen die Menschen ihr Schicksal in die Hand fremder Mächte geben, sich aus der Verantwortung stehlen. Fatum, sagen sie. So kommt es eben und du kannst nur den Buckel hinhalten.«
    Paul nickte und stimmte zu. »So hat er es wohl auch gesehen, mein Vater.«
    »Deshalb will ich ja zu einem Freikorps. Ordnung muss wieder einkehren. Hast du nicht Lust, da mitzuhelfen?«
    Zirbel wies auf die Anzeige, die er in sein Soldbuch gelegt hatte, und reichte sie Paul hinüber. Der las, schüttelte den Kopf und antwortete: »Fünf Mark pro Tag. Das wär nicht schlecht und für Kost und Kleidung brauchst du nicht zu sorgen. Was mich stört, das ist das Gewehr. Ich habe genug davon. Endgültig.«
    Er blätterte in dem Soldbuch und entdeckte, dass Zirbel in Hamborn zu Hause war. Er tippte auf die Stelle und sagte: »Da in der Nähe lebt ein Freund von mir. Wer weiß, vielleicht lande ich auch in dieser Gegend.«
    »Wenn du das ernst meinst, Paul Bienmann, dann kann ich dir eine Adresse geben. Meine Tante, die Mathilde Reitzak, die hat immer ein paar Kostgänger. Warte«, er riss ein winziges Blatt von einem Notizblock und kritzelte eine Anschrift darauf. Er reichte Paul den Zettel und sagte: »Wenn du dich auf mich, den Zirbel, berufst, dann schickt sie dich bestimmt nicht weg.«
    Bruno rückte dicht an Zirbel heran und flüsterte ihm zu: »Sie wollen doch zu einem Freikorps, nicht wahr?«
    »Ja«, antwortete Zirbel. »Ich schließe mich dem Freikorps Schulz an. Aber blase du dir die dummen Gedanken aus dem Kopf. Kinder kann man da nicht brauchen.«
    »Ich will nicht hinein«, wehrte Bruno ab. »Aber sicher kennen Sie solche, die im Freikorps sind.«
    »Gewiss«, versicherte Zirbel.
    Bruno nahm das Foto aus dem Brustbeutel, reichte es zu Zirbel hinüber und fragte: »Vielleicht kennen Sie auch den?«, und er zeigte auf den Offizier.
    Zirbel hielt den Zeitungsausschnitt ins Licht und antwortete: »Könnte schon sein. Am Rhein, wo meine Tante Mathilde wohnt, da ist mir so ein Mann über den Weg gelaufen. Könnte tatsächlich sein. Ist das ein Verwandter von dir?«
    »Nein, nein.« Bruno versuchte, seine Aufregung zu verbergen. Er sagte: »Seinen Namen; kennen Sie seinen Namen?«
    »Namen, Namen«, murmelte Zirbel. »Ich komme nicht darauf. Ich glaube, er hatte vor dem Krieg etwas mit der Brauerei zu tun.« Er schaute noch einmal lange auf das Foto. »Ist ziemlich schlecht zu erkennen. Aber bekannt kommt er mir vor. Warum willst du wissen, wie er heißt?«
    »Das hängt mit meinem Bruder zusammen«, antwortete Bruno.
    »Jaja« erinnerte sich Zirbel. »Irgendetwas mit Bier oder so.« Er gab das Foto zurück. »Wenn du zu meiner Tante kommst, frag die. Die hat ein Gedächtnis wie ein Elefant.«
    »Ist gut«, sagte Bruno.
    Im Abteil war es still geworden. Der Zug ratterte eintönig. Die meisten schliefen oder dösten vor sich hin. »Bald müssen wir in Magdeburg sein«, sagte Zirbel.
    Nur wenige Kilometer hinter Magdeburg blieb der Zug über eine Stunde lang auf freier Strecke stehen, ohne dass jemand den Grund für diesen Aufenthalt erfahren konnte. Dann ruckte er endlich langsam an, schien

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