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Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Titel: Zeit zu hassen, Zeit zu lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
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Lose;
und was die Botschaft hier enthüllt,
bald, Bruno, hat es sich erfüllt.«
    Sie tastete nach dem chinesischen Kasten, schob den Verschlusshaken aus der Öse und klappte den Deckel auf. Der Vogel hüpfte auf den Kastenrand, fuhr mit dem Schnabel tief in die Silberröllchen und zog eines heraus. Willig überließ er es der Frau. Die holte aus ihrer Ledertasche ein Stückchen Brot und belohnte damit den Raben. Der hüpfte auf seinen Korb, hielt das Brot mit den Zehen und fraß es Bröckchen für Bröckchen. Die Frau zog das Los aus der Silberrolle, reichte es dem Jungen und befahl: »Lies!«
    Bruno entrollte es. In ganz dünnen Strichen und Bögen war darauf geschrieben:
    »Du suchst, was du nicht findest,
und findest, was du nicht suchst,
und all das siehst du
wie vom Himmel herab.«

7
    Ich suche den Mörder, fuhr es Bruno durch den Kopf, aber einen rechten Sinn vermochte er nicht in dem Spruch zu erkennen.
    Die Frau nahm ihm das Papier wieder aus der Hand, rollte es fest zusammen und schob es in die silberne Hülle zurück.
    »Was soll das bedeuten?«, fragte Bruno die Frau.
    »Hab nur Geduld! Irgendwann geht dir ein Licht auf. Lebenslose kann man nicht erklären. Ihre Wahrheit musst du erspüren.«
    Die Leute im Abteil schienen auf den Geschmack gekommen zu sein. Erst ermunterte eine junge Frau ihren Begleiter, ein Geldstück lockerzumachen, und der Rabe zog ein Los, das Glück und Kinder verhieß.
    Dann folgte eine stämmige Frau, die etwas über ihren Sohn wissen wollte, der seit 1916 vermisst war. Ein spindeldürres Männchen hätte gern herausgefunden, ob es weiterhin in der Lotterie spielen solle. Eine kaum Zwanzigjährige, ob die neue Arbeit, die sie in Hannover antreten wollte, eine gute Stellung sei.
    Schließlich waren es nur noch Paul und der Mann in der Soldatenuniform, die von der Zukunft im Silberpapier nichts wissen wollten. Die alte Frau sprach den in der Uniform an und fragte ihn: »Wie heißen Sie?«
    »Zirbel, Johann Zirbel«, antwortete er.
    »Mein Name ist Susanna Barsuhn. Ich sage es Ihnen auf den Kopf zu, Zirbel, Sie haben Angst vor der Zukunft. Deshalb wollen Sie von Ihrem Lebenslos nichts wissen.«
    »Einem, der vier Jahre an der Front war, brauchen Sie nicht zu sagen, dass er die Angst kennt, Frau Barsuhn.«
    »Aber warum wollen Sie dann schon wieder ein Gewehr in die Hand nehmen?«, fragte die Alte.
    Zirbel zuckte zusammen und schaute die Frau entgeistert an. Woher wusste sie, dass er sich einem Freiwilligenregiment anschließen wollte? Er hatte mit niemand darüber gesprochen. Aus der Zeitung hatte er sich die Anzeige vor ein paar Tagen ausgeschnitten und in sein Soldbuch gesteckt. Fünf Mark pro Tag sollte es geben, und Ordnung sollte herrschen, und Fronterfahrung war erwünscht, und unter einundzwanzig würde niemand genommen. Er wollte es versuchen, denn schließlich war es allein das Soldatsein, das er von der Pike auf gelernt hatte. Woher wusste die Frau von seinen geheimen Absichten?
    Frau Barsuhn sagte: »Glauben Sie nur nicht, es kämen nur Hinz und Kunz zu mir, Leute, denen man ein X für ein U vormachen könnte. Ganz berühmte Männer und Frauen wollen sehen, was mein Jakob kann. Neulich war sogar der Erzberger in unserer Gegend. Dem hab ich auch angeboten, einen Blick in das Morgen zu wagen. Sie kennen doch den Erzberger. ’ne große Nummer ist der bei der Zentrumspartei. Die einen schwören auf ihn, die anderen möchten ihn am liebsten von hinten sehen. Dem hat mein Jakob auch sein Lebenslos gezogen und ich sage Ihnen, mit dem Erzberger nimmt es ein böses Ende!«
    Zirbel drehte sich unwirsch von ihr weg, starrte aus dem Fenster und schimpfte leise vor sich hin. »Erzberger hin, Erzberger her! 1917 wollte gerade der schon aufgeben und hat unsere Niederlage herbeigeredet. Im November hat er sich nicht geschämt und den Federhalter in die Hand genommen und den Waffenstillstand unterschrieben. Da braucht es keinen Raben, um vorauszusagen, was mit so einem Verräter eines Tages geschieht. Ich bleibe dabei: Brimborium! Nichts als Brimborium!«
    Die alte Susanna zuckte die Achseln. Sie wandte sich an Paul und sagte: »Und Sie, Paul Bienmann? Sie wollen auch keinen Blick in die dunkle Zukunft wagen?«
    »Wissen Sie, Frau Barsuhn, ich hab einen Vater, der ist weit herumgekommen in der Welt. In Amerika war er schon mit vierzehn und später ist er bis hinter Moskau von Baustelle zu Baustelle gezogen und hat Häuser gebaut und Kirchen. Und welcher Bauplan auch immer in seinem Kopf

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