Zeitbombe Internet
und wie viel dieser Jemand über ihn gespeichert hat. Denn die Datenerfassung läuft unterhalb der Wahrnehmungsschwelle des Einzelnen. Wer kennt AppNexus? Wer weiÃ, was Apple, Collective, Tomorrow oder Doubleclick alles wissen? Davon abgesehen, lesen ohnehin wenige Menschen die klein gedruckten, oft mehr als dreiÃig Seiten langen Allgemeinen Geschäftsbedingungen, die sie akzeptieren müssen, bevor sie einen Onlinedienst nutzen. Noch geringer wird der Prozentsatz der (immerhin) Halbwissenden, wenn man bedenkt, das Apple und Co. ihre ellenlangen Dokumente, die an iPhone- und andere Kunden gerichtet sind, alle sechs Monate in wesentlichen Punkten ändern.
Ein zweiter Aspekt ist, dass Supercomputer in der Werbung den Zufall zurückdrängen. In den Grenzen eines bekannten Kundenprofils wird die Werbung zweifellos relevanter; dem System noch unbekannte Neigungen eines Konsumenten werden damit allerdings zunehmend ausgeklammert.
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Abhängigkeit: New York gilt als ein guter Ort, um zu beobachten, wie sehr sich Menschen heute schon auf die Supercomputer verlassen, wie abhängig sie von ihnen sind. Die Wege zwischen Arbeit und Wohnung sind in New York lang, zugleich gibt es viele gut bezahlte Angestellte, die ein teures Telefon, also letztlich einen Zugang zum den Supercomputern besitzen. Das Leben im Laufen zu organisieren ist normal, und in diesem Umfeld habe das Mobiltelefon für viele
Menschen »die Rolle eines Concierge übernommen«, eines Dieners in allen Lebenslagen, sagt Trendscout Florian Peter, Gründer der New Yorker Firma Cscout. »Harry, hol den Wagen«, »Frau Müller, reservieren Sie bitte einen Tisch«, früher musste man Chef sein, damit nach diesen Sätzen etwas geschah. Heute tippen die New Yorker: Taxi! Klick. Tisch bei Abe & Arthurâs, 19 Uhr! Klick.
Menschen, die ihr Handy als ausgelagerten Teil des Gehirns benutzen, sind nicht in der Mehrheit, nicht in der Lower East Side und nicht im Rest der Stadt. Aber ihre Zahl nimmt zu, und Legionen von Start-ups bedienen ihre Bedürfnisse. Sie übersetzen Alltagsfragen in Handyprogramme und machen die Geräte zu einem unverzichtbaren Werkzeug, mit denen sich das Leben in all seinen Nischen organisieren lässt, solange die Systeme funktionieren. Aber wehe, wenn nicht. Wenn einige der groÃen Datensammler versagen, verlieren Menschen heute mehr als ein paar Daten. Es ist, als würde ihnen die Handtasche mit Adressbuch und Tagebuch gestohlen.
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Cyborgs: Ãber Menschen, die ihr Leben besonders eng mit dieser Technik verwoben haben, ist eine wissenschaftliche Debatte entstanden: Werden sie zu einer Art Cyborg? Sind sie nur noch »komplett« in ihrer Verbindung mit der Technik? Die Soziologin und Psychologin Sherry Turkle, die am Massachusetts Institute of Technology lehrt, hat in fünfzehn Jahren und Dutzenden von Feldforschungen das Verhältnis der Menschen zu Computern, Handys und Robotern erforscht. Ihre Erfahrung ist, je weniger Menschen wissen, wie die Technik funktioniert, umso tiefere Gefühle entwickeln sie für sie: Verbundenheit. Vertrauen. Ihre Interpretation läuft darauf hinaus, dass Intensiv-Nutzer von Handy und Co. tatsächlich zu einer Art Cyborg werden.
Diese Menschen seien mit der Technik in einer Weise eins geworden, die noch vor wenigen Jahren auch für Turkle unvorstellbar gewesen sei, argumentiert sie. Damon Darlin schrieb in der New York Times, iPhone und Co. seien »Erweiterungen unseres Ichs geworden, aber nicht in dem Sinn, in
dem eine teure Uhr etwas darüber sagt, wer wir sein wollen, sondern tatsächlich als ein Teil unseres Bewusstseins«. Autonomieverlust, Abhängigkeit, eine sich vertiefende emotionale Beziehung zwischen Mensch und Handy, also letztlich mit den Supercomputern: Es gibt einen plausiblen Grund für diese Entwicklung, sagt der spanische Soziologe und Theoretiker der Informationsgesellschaft, Manuel Castells. »Pervasive mobile Netzwerke gehören inzwischen zu den sozialen Strukturen unserer Welt.« Wir leben in einer »Mobile Network Society«, und man kann sie nicht einfach abschalten, sehr wohl aber verändern. So argumentiert auch Turkle. In einem Interview sagte sie kürzlich: »Eigentlich bin ich vorsichtig optimistisch, dass ein Wandel einsetzt. Der Grund ist, dass die Menschen, mit denen ich rede, einfach nicht glücklich sind.« Und sie führt im Interview mit der Wochenzeitung DIE ZEIT
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