Zeitbombe
längere Pause.
»Meinst du, Ludger lebt noch?«
»Keine Ahnung. Im Augenblick ist jeder Bulle in der Gegend, der aufrecht gehen kann, auf der Suche nach ihm. Jeder Eisenbahntunnel wird überwacht, genauso wie sämtliche Straßen und Plätze. Ludgers Mobiltelefon liegt drin auf der Flurgarderobe, deshalb brauchen wir nicht zu versuchen, es zu orten. Also, was sollten wir noch machen?«
»Ja, was sollten wir noch machen?«, wiederholte Hain die Frage leise. »Obwohl, als du eben drüben bei Bartholdy gestanden hast, bin ich in meinem Kopf die verschiedenen Möglichkeiten durchgegangen, die Bornmann sich zurechtgelegt haben könnte.«
»Und?«
»Na ja, wie es aussieht, will er seinen Opfern das größtmögliche Leiden zumuten, bevor sie endlich sterben dürfen. Mit der Bahn dürfte das im Augenblick schwer werden, weil wir alle Tunnel überwachen.«
»Er könnte es diesmal auf freier Strecke veranstalten. Oder Ludger in den Kofferraum eines Autos werfen und weiter weg fahren.«
»Das sind alles mögliche Szenarien. Nur leider helfen diese Gedanken uns nicht weiter. Wir suchen nach ihm, und wenn wir Glück haben, finden wir ihn, bevor …«
»Bevor der gute Ludger dran glauben muss«, vollendete Hain seinen Satz. »Während ich vorhin so nachgedacht habe, ist mir der Gedanke gekommen, dass Bornmann es an einem der Orte machen könnte, die damals eine Rolle gespielt haben. Der Gerichtssaal zum Beispiel. Oder die Wohnung, in der sie umgebracht wurde.«
»Aber wie sollte er sich Zutritt zu dem Gerichtssaal verschaffen? Oder der Wohnung? Das sind alles Gedanken, die man sich machen kann, die uns jedoch nicht wirklich weiterhelfen.«
»Da muss ich dir jetzt leider recht geben. Irgendwie erscheint das in der Retrospektive ein bisschen wie Aktionismus. Aber ich kann jetzt nicht einfach nach Hause fahren und mich ins Bett legen, das schaffe ich nicht.«
Er machte ein trauriges Gesicht.
»Egal, was passiert ist und was er uns in den letzten Tagen zugemutet hat, wir haben immerhin ein paar Jahre mit ihm zusammengearbeitet. Du noch einige mehr als ich.«
»Ich weiß«, erwiderte Lenz abwesend.
»Was ist mit dir?«, wollte sein Kollege wissen.
Lenz ließ sich mit seiner Antwort ein paar Sekunden Zeit.
»Ich habe gerade an Horst Kohler denken müssen, den Schließer.«
»Ja, und?«
»Mir ging durch den Kopf, was er über Bornmann und den Herkules gesagt hat. Kannst du dich erinnern?«
»Dieses pathetische Gequatsche, wie er es nannte?«
»Genau das.«
»Ja, klar kann ich mich daran erinnern. Warum?«
Wieder dachte Lenz ein paar Augenblicke nach.
»Was, wenn das gar kein pathetisches Gequatsche gewesen wäre? Wenn sich Bornmanns Schicksal wirklich dort oben entscheiden würde?«
»Dann könnte das bedeuten, dass wir ihn dort finden. Aber ich …«
»Unken kannst du später, Thilo«, wurde er von seinem Boss unterbrochen. »Jetzt fahren wir da hoch und sehen uns um.«
»Du bist der Meister«, erwiderte der Oberkommissar, doch in seiner Stimme lagen jede Menge Zweifel.
34
Der Herkules, das imposante, weithin sichtbare Wahrzeichen hoch über der Stadt Kassel, empfing die Beamten mit einer wohlriechenden Mischung aus frischem Sommerregen und dem Duft der vielen Blumen in den Beeten auf dem Gelände.
Hain hatte den Mazda ganz am Anfang des riesigen Parkplatzes auf der Rückseite des gewaltigen Bauwerks abgestellt, den Rest des Weges hatten die beiden Polizisten zu Fuß hinter sich gebracht. Nun standen sie vor dem Oktogon, dem Unterbau der eigentlichen Statue, und sahen hinauf.
»Wo soll man hier anfangen zu suchen?«, fragte der Oberkommissar unentschlossen.
»Am besten sehen wir erst mal im Oktogon nach und wenden uns dann der Pyramide zu.«
»Vermutlich ist das jetzt alles abgeschlossen.«
Lenz warf ihm einen warnenden Blick zu.
»Hör auf zu unken. Oder besser, fang nicht schon wieder an damit.«
Der Hauptkommissar sprang auf die freiliegende Außentreppe, stürmte hinauf und hatte ein paar Sekunden später das Innere des achteckigen Unterbaus erreicht, auf dem sowohl die Pyramide als auch die Herkulesskulptur thronten. Hain folgte ihm etwas langsamer, wobei er seinen Blick über das gegenüberliegende Waldstück kreisen ließ. Sie durchkämmten in entgegengesetzten Richtungen den dunklen, allein von seiner Erscheinung schon Respekt einflößenden Bau und trafen sich etwas später vor dem Aufgang zur Besucherplattform wieder. Hain sah sich das Schloss der schweren, mit Metall verblendeten Tür an
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