Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Es kann keinerlei Schwäche geduldet werden.
Einer der Soldaten beobachtete Wilhelm beim Lesen. »Morgen«, sagte er, »morgen zeigen wir ihnen, warum man dieses Land nicht ungestraft überfällt!« Wilhelm nickte und nahm die Zigarette, die der Soldat ihm anbot.
Beim ersten Mal registrierte er das Geräusch kaum, beim zweiten Mal machte er sich noch keine Gedanken darum, beim dritten Mal erhob er sich, um nachzusehen: Am Ende des Lagerplatzes hielten Taxis in einer langen Reihe, offene rote Renault-Kraftdroschken mit Persenning-Dach, aus denen Männer kletterten. »Schneller, Leute, schneller!«, mahnte einer der Fahrer zur Eile, »ich muss zurück, die Nächsten warten schon!«
Die Fahrgäste, die sich jeweils zu fünft ein Auto geteilt hatten, vertraten sich die Beine und sahen sich um. Nach wenigen Augenblicken erschienen Offiziere, die sie aufforderten, ihnen zu folgen. »Wie ist es in Paris?«, fragte einer. »Sind die Mädchen immer noch so hübsch? Ich hab’ schon seit einer ganzen Weile keine mehr gesehen.« Alle hatten blendende Laune.
Ein Soldat trat neben Wilhelm. »Pariser Taxis«, erklärte er ihm, »seit dem Nachmittag fahren sie zwischen Meaux und Paris hin und her und bringen Nachschub. Jeder, der noch auf seinen eigenen Beinen stehen kann, ist zum Garde du Nord gekommen, um hierhergefahren zu werden und zu kämpfen. Sie stehen Schlange in Paris! Jeder will dabei sein, wenn morgen Zahltag für die Deutschen ist. Das will sich keiner entgehen lassen.«
»Aber sie sehen nicht aus wie Soldaten«, sagte Wilhelm verwundert, »sie tragen Anzüge und sogar Krawatten.«
»Morgen sind sie Soldaten! Die Kleidung ist egal, kämpfen wollen sie. Aber keine Sorge, es sind genügend Uniformen vorhanden. Du solltest dich auch einkleiden lassen.« Er deutete auf ein kleines Gebäude. »Noch kannst du aussuchen, was dir passt. Wenn du zu spät kommst, musst du mit zu kurzen Hosen in den Kampf!« Er lachte, schlug Wilhelm freundschaftlich auf den Rücken und verschwand im Dunkel.
Wilhelm näherte sich dem Gebäude, in dem sich die Kleiderausgabe befand. Hunderte Männer standen dort geduldig Schlange. Ein Wagen nach dem anderen fuhr vor und brachte weitere. »600 Taxis sind unterwegs!«, hörte Wilhelm jemanden sagen. »600! Ich bin vorher noch nie in einem gefahren, viel zu teuer! Aber jetzt weiß ich, wie es ist. Nur schade, dass ich die ganze Zeit einen dicken Kerl auf dem Schoß hatte. Damen sind leider nicht geladen.«
Immer mehr Neuankömmlinge reihten sich hinter Wilhelm in die Wartenden ein. Langsam rückte er mit ihnen vor: Durch die Vordertür betraten die Männer das Gebäude, aus einer Seitentür kamen sie im blau-roten Rock der französischen Armee wieder heraus. Kurz bevor es an ihm war, einzutreten, wurde Wilhelm erst bewusst, in welcher Situation er sich befand: Er war drauf und dran, den Waffenrock des Gegners anzuziehen! Wilhelm reckte sich, sah über die Köpfe der Wartenden hinweg und schien jemanden entdeckt zu haben. »Warte!«, rief er, »hier bin ich! Wo hast du denn gesteckt?« Dann wandte er sich um und sagte: »Entschuldigung, ich bin gleich zurück.« Mit diesen Worten verließ er die Gruppe.
*
In Wilhelms Kopf rasten die Gedanken: Er war offenbar ins Zentrum des Aufmarschgebietes geraten, hatte gesehen, dass Frankreich jeden verfügbaren Mann mobilisierte. Und er? Auf wessen Seite stand er? Er wusste, dass er nie ein Gewehr gegen deutsche Soldaten richten würde. Aber er wusste ebenso, dass er diesen Männern hier, die danach fieberten, ihr Land zu verteidigen, alle Sympathie entgegenbrachte. Sie hielten ihn für einen der Ihren, sie hatten ihm zu essen gegeben, hatten keine Fragen gestellt.
Er fand in der Dunkelheit nicht zu dem Pferd zurück. Ziellos ging er von einem Feuerplatz zum nächsten, sah die Begeisterung in den Gesichtern, die Zuversicht, die Jugend und Verletzlichkeit der Männer. Und er wusste, dass die meisten von ihnen den morgigen Abend nicht erleben würden.
Wilhelm spürte schaudernd, dass auf sie alle etwas zukam, was noch kein Mensch gesehen hatte. Etwas Gewaltiges, Unbezwingbares. Ein Grauen stieg in ihm auf, ein Gefühl der Übelkeit, ein Schmerz, der anders war, als alles, was er bislang empfunden hatte. Ein Ungeheuer kam auf sie alle zu, gierig und grausam. Niemand würde es bezwingen können, es würde immer weiter wüten, je mehr Menschen sich ihm in den Weg stellten. Je mehr es verschlang, desto größer würde sein Hunger werden. Es war überall und
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