Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
sie zusammenfahren. »Das kann nicht der Marder sein«, flüsterte Helène. Still saßen sie am Tisch und horchten. Es blieb ruhig. Beide erhoben sich und gingen leise durch die Küche. Vor der Tür, die in den Hintergarten führte, blieben sie stehen und lauschten. Nichts. Das Tuckern eines Schleppzugs auf dem Kanal, das Bellen eines Hundes in der Ferne. Dann ein Aufschrei von Adèle. Helène folgte ihrem Blick – vor dem Fenster zeichneten sich die Umrisse einer menschlichen Gestalt ab.
Adèle näherte sich vorsichtig dem Fenster, blieb dann abrupt stehen, wirbelte herum und riss die Tür auf.
*
Wilhelm schlief wie ein Stein. Helène und Adèle hatten versucht, ihn nach oben in sein ehemaliges Schlafzimmer zu bringen, aber er war zu schwach. So legten sie ihn schließlich auf das große Sofa im Salon. Adèle kniete vor ihm und sah ihn unverwandt an. Seine Kleidung, die eines französischen Bauern, war zerrissen, sein Gesicht bleich und verschrammt, das Haar blutverkrustet. Aber sein Atem ging gleichmäßig. Er schlief regungslos.
Zuvor hatten sie ihm Fragen über Fragen gestellt. Er hatte keine beantworten können: Er versuchte zu sprechen, seine aufgesprungenen Lippen bewegten sich, es kam kein Ton heraus. Wo kam er her? Warum war er plötzlich hier? Was hatte er erlebt? Sie würden warten müssen, um es zu erfahren. Sie wussten nuraus einem Brief, den Elisabeth geschrieben hatte, dass Wilhelm verhaftet worden war. Die beiden Frauen hatten lange bei ihm gesessen, dann seufzte Helène und erhob sich. »Gut, dass du hier bist«, sagte sie und verließ das Zimmer.
Adèle beugte sich dicht über Wilhelm, sein Atem bewegte ihr Haar. Sie sah ihm ins Gesicht, fuhr immer wieder mit dem Finger über seine Stirn. Tränen liefen ihr über die Wangen. So bemerkte sie es nicht sofort, als er die Augen aufschlug. Wie durch einen Schleier sah sie schließlich seinen Blick, dann warf sie sich mit einem kleinen Aufschrei über ihn und schlang ihre Arme um ihn.
So fand Helène sie, als sie am Morgen den Salon betrat. Adèle, immer noch auf Wilhelm liegend, schlief, ihr entspanntes Gesicht schien zu lächeln, Wilhelm sah seiner Mutter entgegen. Als sie vor dem Sofa stehen blieb, streckte er eine Hand empor. Helène ergriff sie und drückte sie mit beiden Händen, als wollte sie sie nie wieder loslassen.
Stille erfüllte den Raum, ein Frieden, den Helène begierig aufsog. Es traf sie wie ein Hieb, als Wilhelm plötzlich mit rauer Stimme sagte: »Ein Ungeheuer. Es ist ein Ungeheuer.«
Helène versuchte, ihr Entsetzen zu verbergen, beugte sich vor und fragte leise, um Adèle nicht aufwecken: »Wo? Wo ist ein Ungeheuer?«
»Draußen«, erwiderte Wilhelm. »Überall. Es ist überall. Niemand wird ihm entkommen, es gibt nichts, um es zu bezwingen.«
Adèle seufzte im Schlaf und wendete ihren Kopf zur anderen Seite. Ihr Haar, das mittlerweile nachgewachsen war, fiel über Wilhelms Gesicht. Er wollte es zur Seite schieben, doch Helène sagte: »Lass nur. So findet das Ungeheuer dich nicht …«
*
Wilhelm erholte sich schnell, die Erinnerung an die letzten Wochen kehrte zurück. Er war gegangen, immer weiter gegangen, dem Flusslauf folgend. Er wusste, dass die Marne irgendwann in den Rhein-Marne-Kanal mündete, und der würde ihn direkt nach Lagarde führen. Die Bilder der Erinnerungen verwischten, er wusste nicht mehr, an welchem Tag was geschehen war. Er sah singende Männer, die in Kanonenfeuer hineinstürmten, er sah ihre zerfetzten Leiber, er sah Arme und Beine auf Bäumen wachsen, er sah halbe Pferde, die versuchten, sich vorwärts zu schleppen. Er roch den Pulverdampf, hörte das Grollen der Geschütze, die Flugzeuge, die Maschinengewehre.
Wieso er unverletzt immer weiter am Fluss entlanggelaufen war – er konnte es sich nicht erklären. Aber er wusste: Es war noch lange nicht zu Ende. Er lag hier in der Stille des Hauses seiner Mutter, und draußen wütete der Tod. Man brauchte nur ein paar Stunden nach Westen zu reiten und würde der lachenden Fratze des Ungeheuers gegenüberstehen.
Sie verbrachten die Tage in trügerischer Ruhe. Helène erzählte Wilhelm von den Kämpfen in Lagarde, von den Toten auf der Dorfstraße, von den Pferden in den Vorgärten, von Rogérs Tod. Wilhelm berichtete von Dinant, von Hirson, von der größten Armee, die je durch ein Land marschiert war. Adèle erzählte von Tagen in Angst und Sorge, entdeckt zu werden, von Verstecken, von Verhaftungen.
Sie verließen das Haus nicht und genossen
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