Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Kilometer weit zu hören war. Das 1 000 Kilogramm schwere Geschoss flog in 500 Metern Höhe durch die Dunkelheit und schlug im 27 Kilometer entfernten Verdun ein. Es verfehlte sein Ziel, die zentrale Brücke über die Maas, nur knapp und riss stattdessen neben der Kathedrale der Stadt einen siebzehn Meter tiefen Krater in den Boden.
Unmittelbar darauf begann das Trommelfeuer – sechs Stunden lang wühlten mehr als 1 00 000 Granaten und Kanonenkugeln die Erde auf. Und dann – erst dann – kam der erlösende Befehl: Angriff! Die Männer der Sturmtrupps sprangen auf, kletterten die Leitern hinauf, die an den Wänden der Gräben bereitstanden. Die grellen Blitze der Geschosse erhellten das trübe Licht des Tages, als sie aus dem Graben krochen und mit vorgehaltenen Bajonetten über das freie Feld stürmten in der Hoffnung, die Geschosse der eigenen Artillerie würden weit genug fliegen, um sie nicht in den Rücken zu treffen.
Wilhelm blickte nach Westen: Am Horizont vor ihnen lag wie ein riesiger grauer Wal Douaumont, das uneinnehmbare Fort, das Major Baldauf ihnen als Ziel genannt hatte.
*
Adolphe Printemps war beruhigt. Seit Beginn der deutschen Offensive vor drei Tagen hatte er immer wieder Funksprüche gesendet, in denen dringend Verstärkung angefordert wurde. Die Entscheidung, die Besatzung des Forts auf 65 Mann zu begrenzen, hatte sich als fataler Fehler erwiesen. Jetzt endlich regierte der neue Befehlshaber, General Henri Pétain: Spätestens am nächsten Tag war mit 200 Mann Verstärkung zu rechnen.
Printemps, Telefonist und Funker in Fort Douaumont, machte sich erleichtert auf den Weg zum Fortkommandanten, um ihm die telegrafische Nachricht zu überbringen. Die Kommandantur befand sich in der untersten Ebene der Anlage, tief in der Erde unter dicken Betonmauern, vor jedem Granateneinschlag sicher. Printemps’ Funkstube befand sich oben, direkt unter einem der Geschütztürme, die aus dem Fort herausragten. Die beiden Kanoniere, die sie bedienten, waren die Einzigen, die sich zu dieser frühen Stunde des Tages im oberen Teil des gewaltigen Bauwerks aufhielten. Endlich Verstärkung!, dachte er, als er durch die endlosen Gänge und Treppenschächte nach unten eilte: Wenn die Deutschen kommen, werden wir sie gebührend empfangen.
Aber sie waren bereits da.
*
Der Anblick der riesigen grauschwarzen Mauern war überwältigend und beängstigend. Die Männer hatten noch eine Anhöhe vor sich, dann war die Befestigungsanlage erreicht. Der Weg bis hierher war unerwartet einfach gewesen, die französischen Gräben verlassen, zwei Unterstände wurden überwältigt, die völlig überraschten Soldaten gefangen genommen. »Es stimmt also«, sagte der Feldwebel, »sie haben uns hier noch nicht erwartet. Wir waren zu schnell – und jetzt werden wir noch schneller sein …«
Ihr Befehl lautete, auf die nachrückenden Verbände zu warten, ein gemeinsamer Großangriff auf das Fort war für den übernächsten Tag geplant. Der Feldwebel schüttelte den Kopf. »Darauf werden wir nicht warten, wir werden ihnen zuvorkommen.«
Er überlegte kurz, dann befahl er: »Sie geben uns Deckung«, er deutete auf einige Männer, »die übrigen rücken mit mir vor!« Er sah Wilhelm an, der neben ihm stand. »Spaten können hierbleiben«, fügte er hinzu.
Die Anhöhe war von Verteidigungsgräben durchzogen. Sie waren unbesetzt, gebückt liefen die zwanzig Männer darin bergan, nach einer halben Stunde waren sie oben. Schwer atmend lehnten sie sich gegen die feuchte Betonmauer, die über ihren Köpfen in den Himmel ragte. »Und nach unten geht’s noch dreimal so tief«, sagte der Feldwebel zu Wilhelm. »Dagegen sind die Pyramiden Puppenhäuser.« Wilhelm hob den Blick, als eine Taube mit klatschenden Flügeln aus einem Nest in einem Mauervorsprung aufflog.
*
Printemps hatte auf seinem Weg nach unten die Krankenstation passiert, ein schmaler Raum mit vier Betten und einem Medikamentenschrank. Er blieb stehen. Der Kommandant hatte ihm aufgetragen, beim nächsten Meldegang Kopfschmerztabletten mitzubringen. Er war unschlüssig: Die Mitteilung, die er in der Hand hielt, duldete keinen Aufschub, andererseits …
Er kehrte um und ging auf das Krankenzimmer zu. Es war derzeit unbelegt, dementsprechend wunderte Printemps sich über Geräusche, die aus dem Raum drangen. Er trat an die Eisentür heran, horchte einen Moment, dann stieß er sie auf.
*
Die Sturmtruppe hatte das Fort fast umrundet, als Wilhelm stehen blieb und nach oben
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