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Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karsten Flohr
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deutete: Eine der Eisenluken vor den Belüftungsschächten stand offen. Der Feldwebel zögerte keine Sekunde: »Pyramide!«, befahl er. Fünf Männer stellten sich vor der Mauer nebeneinander auf, vier kletterten auf ihre Schultern, dann drei weitere, dann noch zwei – eine Menschenpyramide. Der Feldwebel gab Wilhelm einen Wink – er kletterte als Letzter nach oben. Als er auf den Schultern der beiden Obersten stand, blickte er hinein und sah vor sich einen Gang, der ins Dunkel führte. Erstemmte sich hoch, schwang sich in die Luke und stand im Inneren des Forts. Fünf Minuten später waren alle zwanzig Männer drinnen.
    Leise schlichen sie den Gang entlang, die Gewehre schussbereit. Niemand begegnete ihnen, sie drangen von einem Gang in den nächsten vor. Plötzlich ertönten vor ihnen Schritte, die sich schnell näherten. Der Feldwebel deutete auf eine offene Tür zu seiner Rechten. Die Männer betraten den Raum, in dem sich nur ein Schrank und vier Betten befanden.
    *
    Printemps ließ den Zettel fallen und hob die Hände. Mehr als ein Dutzend Gewehrmündungen zielten auf seinen Kopf. Ganz langsam setzte er einen Fuß nach hinten. »Hier bleiben!«, zischte der Feldwebel. »Du wirst uns zu den anderen führen. Wo ist die Kommandozentrale?«
    Printemps hob resigniert seine Arme noch ein Stück höher: Er hatte die Frage nicht verstanden. Einer der Männer, die hinter dem Feldwebel standen, wiederholte sie auf Französisch. »Ganz unten«, antwortete Printemps.
    »Wie viele Soldaten sind im Fort?«
    »65.«
    Wilhelm wiederholte die Antwort auf Deutsch – ein Raunen ging durch die Männer. »Ruhe«, befahl der Feldwebel. »Fahren Sie fort!«
    »Wo?«, fragte Wilhelm den Mann.
    »Alle unten.«
    »Wann erwartet ihr Verstärkung?«
    Printemps deutete auf die Nachricht, die vor ihm am Boden lag, Wilhelm hob sie auf, warf einen Blick darauf und reichte sie an den Feldwebel weiter. »Gerade rechtzeitig«, sagte er, »morgen wären wir zu spät gekommen.«
    Wilhelm trat einen Schritt an den Franzosen heran – und hielt den Atem an. Er sah, wie Printemps ihn ebenfalls erkannte.
    *
    Adèles Kleid ist zerfetzt, das Haar von Feuer versengt, ihr Gesicht von Blut und Ruß geschwärzt. Mühsam schleppt sie sich durch die rauchenden Trümmer. Die Last, die sie trägt, scheint sie jeden Moment zu Boden zu ziehen, die Arme hängen zur Seite herunter, der Kopf baumelt im Nacken: Helène hat ihre Augen weit geöffnet, aber sie sehen nichts mehr, sind leblos zum Himmel gerichtet, während Adèle sie aus dem brennenden Haus trägt – direkt auf Wilhelm zu. Schwankend nähert sie sich ihm. Als sie vor ihm steht und Helènes Körper aus ihren Händen gleitet, sieht er es: In der Nase des rußgeschwärzten Gesichts stecken zwei Knochen, die Augen starren ihn an wie glühende Kohlen.
    Mit einem Stöhnen erwachte Wilhelm. Es war stockfinster, er brauchte eine Weile, um sich zu orientieren. Seine Hände ertasteten den Holzboden, der strenge Geruch von Zigaretten und Alkohol erinnerte ihn schließlich daran, wo er sich befand.
    Das Bauernhaus, in dem der Sturmtrupp nach der Eroberung Douaumonts einquartiert worden waren, bot seit einer Woche alle nur erdenklichen Annehmlichkeiten: drei Mahlzeiten am Tag, Wein, Zigaretten und vor allem – Ruhe. Der Donner der zehn Kilometer entfernten Front klang nunmehr wie das Rumpeln eines Pferdefuhrwerks.
    Die Einnahme des Forts, bei der kein einziger Schuss abgefeuert worden war, hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Die völlig überraschte Besatzung war widerstandslos entwaffnet worden. In der Heimat wurde die Eroberung als großer Sieg, als endgültiger Durchbruch gefeiert. Der Feldwebel wurde zum Oberfeldwebel befördert, die Männer des Sturmtrupps erhielten eine Woche Fronturlaub in einem abgelegenen Gehöft.
    Der vorherige Tag hatte den Helden unerwarteten Besuch beschert: Major Baldauf erschien am Nachmittag und befahl seinen Männern, bis 18 Uhr gewaschen und gekämmt zu sein und saubere Uniformen angelegt zu haben. Dann verschwand er ohne nähere Erklärungen.
    Um 18 Uhr fuhren mehrere Autos vor, denen ein Dutzend junger Frauen entstiegen. Sie rafften kichernd ihre Kleider, als sie umdie Pfützen herum zum Haus gingen, wo die verblüfften Männer ihre Ankunft durchs Fenster beobachteten.
    Das Fest dauerte bis weit nach Mitternacht, die Damen des Armeebordells konnten nicht genug bekommen von den Schilderungen der Erstürmung des Forts: Immer wieder mussten die Männer die verblüfften

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