Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
erinnert mich an Wilhelm. Er ist dort draußen.« Sie deutete zum Fenster.
Dr. Antosch sah sie irritiert an. »Wo?«, fragte er, trat ans Fenster und sah ins Dunkel hinaus. Dann erst verstand er. »Verzeihung, gnädige Frau, wie dumm von mir. Ich hatte gedacht …«
Helène winkte ab. »Ich stelle mir vor«, sagte sie leise, »dass jeder Verwundete, dem hier in meinem Haus das Leben gerettet wird, Wilhelms Leben um einen Tag verlängert. Ist das nicht verrückt?«
Er trat neben sie und legte schüchtern eine Hand auf ihre Schulter. »Nein«, sagte er, »etwas anderes ist in diesen Zeiten gar nicht möglich. Jeder stellt sich irgendetwas vor, hofft auf irgendetwas, fleht um irgendetwas, was er in normalen Zeiten für verrückt halten würde. Deshalb spricht niemand darüber. Sie sind eine bemerkenswerte Frau.«
Helène trat ans Fenster und sah zu Printemps’ Häuschen hinüber. Sie hatte Adèle und das Kind seit mehreren Tagen nicht gesehen. Morgen würde sie zu ihnen gehen.
Gas
Die Franzosen eröffneten zuerst das Feuer. In dem engen, schwach erleuchteten Gang stolperten die überraschten Deutschen förmlich übereinander, die vorn postierten sanken tödlich getroffenzu Boden. »Rückzug!«, schrie der Oberfeldwebel, kopflos stolperten sie den Weg zurück, den sie gekommen waren. Wilhelm fühlte einen brennenden Schmerz in der Hüfte, seine Beine gaben nach, er sackte langsam zu Boden. Er spürte noch die Stiefel der Männer, die über ihn hinwegliefen, hörte die Schreie und die Schüsse, dann verließen ihn die Sinne.
Als er wieder zu sich kam, tastete er unter seine Jacke und spürte Feuchtigkeit an der Hüfte. Wilhelm führte einen Finger zum Mund und schmeckte Blut. Dann erst bemerkte er das Gewicht eines Körpers, der auf ihm lag. Langsam rollte er sich darunter hervor und begann, an der Wand entlangzukriechen. Immer wieder berührte er Tote. Er wusste nicht, wie lange er gekrochen war, als er in der Ferne vor sich ein schwaches rotes Licht sah. Er zog sich an der Wand hoch, eine Hand gegen die Hüfte gepresst. Die Wunde brannte, er tastete die Jacke ab und bemerkte erst jetzt, dass er sein Gewehr verloren hatte. Aber die Pistole war noch da! Er hielt sie schussbereit vor sich, während er langsam weiterging. Als Wilhelm das schwache Licht fast erreicht hatte, blieb er wie angewurzelt stehen: Von der anderen Seite schob sich ihm eine Gewehrmündung entgegen, dann trat eine Gestalt auf ihn zu.
»Aiauschi!«, entfuhr es Wilhelm. Große, weiße Augen sahen ihn aus einem pechschwarzen Gesicht an. Wilhelm hörte seinen eigenen Atem ebenso laut wie den des Mannes, der ihm gegenüber stand. Reglos fixierten sie sich, jeder wusste, dass der erste Schuss sie beide töten würde, denn es würde dem anderen genügend Zeit bleiben, ebenfalls abzudrücken.
Wilhelm war wie hypnotisiert von den Augen des Mannes, er hatte das Gefühl, als würden sie ihn aufsaugen. Das Licht der roten Glühbirne wurde schwächer und schwächer, dann war es dunkel um ihn. Er verlor erneut das Bewusstsein.
»Warum hast du dieses Wort gesagt?«, fragte der Mann und rüttelte an Wilhelms Arm. Er kauerte neben ihm am Boden. »Woher kennst du es?« Er sprach akzentfreies Französisch.
Wilhelm schüttelte den Kopf, er begriff nicht, wieso er noch am Leben war. »Warum hast du mich nicht getötet?«
»Weil du dieses Wort gesagt hast. Woher kennst du es?«
»Ich kannte jemanden, der so hieß. Du hast mich an ihn erinnert.«
»Es ist der Name eines Königs aus einem Land, das an mein Land grenzt.«
»Woher kommst du?«
»Die Franzosen nennen es Elfenbeinküste. Woher kennst du den König?«
»Ich kannte seinen Enkel, er hatte denselben Namen. Er hat mir das Leben gerettet. Du siehst ihm sehr ähnlich.«
»Was ist mit ihm geschehen?«
»Er starb.«
»König Aiauschi war ein bedeutender Mann. Er hat gemeinsam mit dem Häuptling meines Stammes gegen die Weißen gekämpft, bis er sich den Deutschen unterwarf. Unser Häuptling tat das nicht. Er wurde getötet.«
»Wie heißt du?«, fragte Wilhelm.
»Abadi. Ich gehöre zum Stamm der Yakuba. Bei uns holen sich die Franzosen ihre schwarzen Soldaten. Wir sind seit jeher Krieger.«
»Bist du verletzt?«, fragte Wilhelm.
Der Schwarze deutete auf sein Bein. »Es ist tot, ich kann es nicht mehr fühlen. Und du?«
»Die Hüfte. Seit wann bist du hier?«
»Seit einem Jahr. Erst an der Marne, jetzt hier im Fort.«
»Sind noch mehr Afrikaner hier?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich bin der
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