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Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karsten Flohr
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das Brennen in Brust und Augen, als plötzlich eine Stimme aus dem Nebel sagte: »Atmen Sie! Hier brauchen Sie die Maske nicht mehr. Können Sie uns sehen?«
    Wilhelm nickte. »Schwach – nein, eigentlich nicht. Es ist so neblig hier.«
    Der Sanitäter legte ihn auf eine Bahre. Das Letzte, was Wilhelm sah, war der grelle Blitz einer Granate, die nicht weit entfernt explodierte.

9 . Berlin
Im Netz
    Wilhelm hörte Stimmen, ganz dicht an seinem Ohr. Er verstand die Worte nicht, obwohl sie in einer Sprache waren, die ihm bekannt erschien. Er wollte sprechen, aber etwas war über seinen Mund gespannt, die Lippen ließen sich nicht öffnen. Er drehte den Kopf, ein Laut entrang sich seiner Kehle.
    »Er kommt zu sich!«, sagte eine Stimme. »Können Sie mich hören?«
    Wilhelm nickte. Er wollte eine Hand heben, aber der Arm war unbeweglich.
    »Nicht aufregen!«, sagte die Stimme. »Ich bin Arzt, und Sie sind im Lazarett. Wir haben Ihren Kopf verbunden, damit keine Keime in Ihre Augen gelangen. Ihre Hände haben wir fixiert, um zu verhindern, dass Sie im Schlaf in Ihr Gesicht fassen. Sie bekommen jetzt etwas zu trinken.«
    Wilhelm spürte, wie sich ihm eine weitere Person näherte. »Schneiden Sie den Verband über seinem Mund auf«, sagte der Arzt.
    Kurz darauf spürte er kühles Nass auf seinen gesprungenen Lippen, Wassertropfen glitten in seinen Mund. »Nicht so viel auf einmal!«, sagte der Arzt. »Später können Sie trinken, so viel Sie möchten.« Er legte eine Hand auf Wilhelms Schulter. »Wir kriegen Sie wieder hin. Nur der Verband muss eine Weile bleiben, es darf nichts an Ihre Augen gelangen. Wir haben sie eingesalbt, morgen wechseln wir den Verband. Versuchen Sie zu schlafen!«
    »Danke«, sagte Wilhelm leise, »noch ein paar Tropfen, bitte.«
    »Geben Sie ihm noch etwas«, sagte der Arzt. »Und cremen Sie seine Lippen ein, sie sind aufgesprungen.«
    Wilhelm hörte das Rascheln von Stoff, als sich die andere Person über ihn beugte. »Sie brauchen keine Angst mehr zu haben, hier sind Sie in Sicherheit. Trinken Sie!«, sagte eine Frau. Sie benetzte seinen Mund. Dann strich ein Finger auf seine Lippen. »Fett wird ihnen guttun«, sagte sie. »Und jetzt schlafen Sie wieder! Später bringe ich Ihnen nochmals Wasser.«
    *
    »Hast du dir schon mal überlegt, wie die Spinnen sich im Winter ernähren?«
    »Wie immer, nehme ich an. Sie bauen ihre Netze, und dann warten sie, bis sich Insekten darin verfangen.«
    »Aber im Winter fliegen keine Insekten durch die Gegend.«
    »Na, dann müssen sie sich eben Speck anfressen und warten, bis der Winter vorbei ist.«
    »Speckspinnen, nicht wahr? Ja, so wird es sein. Guck dir das an: Der Zug steht gerade mal seit drei Stunden, und schon hat sie ihr Netz gesponnen.«
    Die beiden Soldaten pressten ihre Nasen ans Abteilfenster und sahen der Spinne bei der Arbeit zu.
    »Unglaublich, wie schnell die sind!«, sagte der eine. »Wahrscheinlich schaffen sie das nur für kurze Strecken – aber stell dir vor, sie könnten das kilometerweit, dann wären sie schneller als unsere Gäule. Wie viele Spinnen müsste man vor eine Kanone spannen, um sie vom Fleck zu kriegen?«
    »Du Spinner, was redest du denn da?«
    »Mal im Ernst: Angenommen, es würde unseren Wissenschaftlern gelingen, Speckspinnen zu züchten, die auch über lange Strecken hohe Geschwindigkeit durchhalten könnten – dann säßen wir jetzt nicht hier im Lazarett-Zug, sondern dann wäre der Krieg längst zu Ende. Zu unseren Gunsten, natürlich!«
    Er wandte sich zu Wilhelm. »Was meinst du, Kamerad? Kannst zwar nichts sehen, aber verstehen kannst du, oder?«
    Wilhelm nickte. »Ich finde, das ist eine bahnbrechende Idee. Und es ist sicherlich noch nicht zu spät dafür. Wenn wir in Berlin sind, werde ich das der Heeresleitung vorschlagen. Das wird die Wende bringen.«
    »Siehst du, siehst du: Er hat es begriffen! Er ist ein heller Kopf! Nur leider mit einem Spinnennetz drum rum. Aber keine Sorge:Das kommt irgendwann runter, Kamerad! Und dann siehst du auch wieder was von der Welt!«
    »Ich weiß gar nicht, ob ich das will.« Wilhelm kratzte sich an der Stirn, der Verband reizte seine Haut. Sie juckte, obgleich er im Lazarett gelegentlich gewechselt worden war, damit seine gereizten Augen eingesalbt werden konnten. Der Verband erinnerte ihn tatsächlich an ein Spinnennetz, in dem er gefangen war.
    »Er will nichts mehr sehen, er hat die Schnauze voll – oh, wie ich das verstehen kann! Was war das Letzte, was du gesehen hast,

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