Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Verletzten Mut zugesprochen, und jedes Mal war es ihm auf das Gemüt geschlagen.
Die Härte und die Kälte, mit der seine Generäle ihre Angriffe planten, Schlachten resümierten und die Verluste bezifferten, waren ihm fremd und stießen ihn zusehends ab. Er kannte dieErwartungen seines Vaters an ihn und wusste, dass er sie nicht erfüllen konnte: Dieser Krieg bot keinen Platz mehr für Anstand und Ritterlichkeit, so wie er sie erwartete.
Aber jetzt – jetzt stand er einem Mann gegenüber, der ihm mehr Respekt abnötigte als je ein Gegner zuvor: Major Sylvain Raynal war doppelt so alt wie Kronprinz Wilhelm, er ging am Krückstock und war der Kommandant von Fort Vaux gewesen. Der aufopfernde Widerstand der Besatzung des Forts hatte Raynal trotz der Niederlage zum Symbol des Kampfeswillens der Franzosen gemacht – und zum heimlichen Helden des deutschen Thronfolgers.
Der junge Kronprinz hatte Major Raynal gegen den Rat seiner Generäle aus dem Kriegsgefangenlager in sein Hauptquartier bringen lassen. Jetzt beobachtete er, wie der kräftige, gedrungene Mann, dem die Strapazen und das Grauen der letzten Tage ins Gesicht geschrieben standen, durch den Raum auf ihn zuhumpelte. Wilhelm erhob sich, ging ihm entgegen und streckte seine Hand aus. »Es ist eine Ehre für mich und mein Land, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind«, sagte er. »Ich habe Sie zu mir gebeten, um Ihnen meine Anerkennung auszusprechen. Ich bitte Sie, als Zeichen meines großen Respekts dieses Geschenk anzunehmen.« Damit bot er Raynal seinen Säbel an.
Der Major nahm den Säbel, hielt ihn mit ausgestreckten Armen vor sich und betrachtete ihn. In der blitzenden Klinge sah er wie in einem Spiegel die Bilder, die ihn für den Rest seines Lebens nicht mehr loslassen würden; er sah die brennenden Leiber der Soldaten, die die dunklen Gänge des Forts erleuchteten; er hörte das schmatzende Geräusch der Stiefel, die durch kniehohes Blut wateten; er spürte die Körper der Toten unter seinen Füßen; er sah die Verwundeten, die das Wasser von den Wänden der Steinmauern leckten, um ihren brennenden Durst zu löschen. Und er vernahm das Gurren der Taube, die er in den Nachthimmel entlassen hatte: »Erbitte Verstärkung. Dies ist unsere letzte Brieftaube«, stand auf dem Zettel, den sie an einem Ring um ihren Fuß trug.
Die Verstärkung kam zu spät: 600 Männer ließen in erbittertenKämpfen Mann gegen Mann zwischen dem 7. Mai und dem 7. Juni 1916 in den Katakomben des Forts ihr Leben.
Raynal sah den deutschen Kronprinzen an, salutierte und verließ wortlos den Raum. Sein Krückstock hallte auf den Holzbohlen wider.
*
Um vier Uhr morgens hatte der Angriff auf das Fort begonnen. Mit dem ersten Tageslicht untersuchte der Sturmtrupp das Dach und wurde fündig: Der wochenlange Granatenbeschuss hatte seine Wirkung gezeigt, breite Risse in der mächtigen Betondecke ermöglichten den unbemerkten Einstieg. An Seilen glitten sie hinab und drangen ins Innere vor. Alles war beinahe genau so wie in Douaumont. »Déjà vu«, flüsterte der Oberfeldwebel Wilhelm zu und grinste, »so nennen die Franzosen das.«
Leise schlichen sie den ersten Gang entlang, der in das Zentrum der Anlage hineinführte. Trotz ihrer schweren Stiefel bewegten sie sich fast lautlos auf dem glitschigen Steinpflaster, umso lauter hallte das unterdrückte Niesen wider, das plötzlich wenige Meter vor ihnen hinter einer Abbiegung zu hören war. In die nachfolgende Stille hinein ertönte ein Fluch. Dann war es wieder völlig ruhig. Aber ihnen war klar, dass sie dieses Mal nicht allein waren.
Österreicher
Helène hatte während der letzten Tage kaum mehr als zwei Stunden Schlaf gefunden. Immer wenn sie gerade in einem Sessel eingenickt war oder sich auf der Couch im Salon ausgestreckt hatte, weckten Krankenschwestern und Ärzte sie auf, um sie um Hilfe zu bitten oder um Rat zu fragen. Seit das Gutshaus in Lagarde zu einem Lazarett geworden war, in dem das Internationale Rote Kreuz verwundete Soldaten aller Nationen behandelte, war Helène ständige Anlaufstation für die Helfer, die hier bis zur Erschöpfung arbeiteten und versuchten, die Leiden der Soldatenzu lindern oder ihnen die letzten Stunden ihres Lebens zu erleichtern.
Sie war der Anfrage des Roten Kreuzes spontan nachgekommen, ohne zu ahnen, auf was sie sich damit wirklich einließ. Die Umgestaltung der Räume und ihre Ausstattung mit Krankenbetten, Tragen, Rollstühlen, Operationstischen und Medikamentenschränken war
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